Der Kultautor Hans Widmer alias PM propagiert ein Netz selbstverwalteter Nachbarschaften. Zudem findet er, dass es in der Schweiz keine Urbanität gibt und fordert gleich 50 neue Städte. Im Interview erklärt er auch, weshalb Hochhäuser, «Anarchie-Zoos» und das bedingungslose Grundeinkommen nicht gut in sein Konzept passen.
Warum das Velo ein Urbanitätskiller ist, ein Rolls-Royce aber durchaus in einer nachhaltigen Lebensweise Platz finden kann: Der Autor Hans Widmer alias PM ist ein Vordenker neuer Modelle des Zusammenlebens. Sein 1983 erschienenes Büchlein mit dem Titel «bolo’bolo» hat weit über die Hausbesetzerszene hinaus längst Kultstatus. Darin beschreibt PM eine anarchistisch geprägte Gesellschaftsform, die sich mosaikartig aus selbstverwalteten Nachbarschaften zusammengesetzt.
Der Verein Neustart Schweiz setzt sich basierend auf den Modellen Widmers für selbstverwaltete Siedlungen ein. In Basel möchte die Bau- und Wohngenossenschaft Lebenswerte Nachbarschaften (LeNa) diese Ideen für das Felix-Platter-Areal einbringen. Die kürzlich vereinbarte Erhaltung des Hauptgebäudes kommt ihnen dabei entgegen. In Zürich hat Hans Widmer bei mehreren Genossenschaften wie KraftWerk1, Mehr als Wohnen und Karthago mitgewirkt. Bei der bekannten Siedlung Kalkbreite war er zwar nicht beteiligt, doch auch dort gibt es Parallelen zu seinen Konzepten.
Im Interview erklärt Widmer, warum er Gentrifizierungskritiker als verkappte Konservative sieht, weshalb die Pseudo-Dörfer in der Agglomeration abgeschafft gehören und warum das bedingungslose Grundeinkommen nicht zu seinem Modell passt.
Herr Widmer, ginge es nach Ihnen: Was würden Sie aus einem Gebäude wie dem alten Felix-Platter-Spital machen?
Eine ökologisch und sozial integrierte Nachbarschaft. Das Felix-Platter-Areal kenne ich zwar nicht gut, doch es sieht nicht schlecht aus: Es hat ein sehr grosses, kompaktes Gebäude, was mir Spass macht. Beim Nachbarschaftskonzept sollten nämlich etwa 500 Personen Platz haben. Man muss gross denken. Ob die Leute allein oder zu zehnt wohnen möchten, ist mir egal. Es gibt die ganze Palette an Möglichkeiten: Cluster- und Einzelwohnungen oder WGs. Wichtig ist, was sie als Gesamtheit zusammen machen.
Sollten wir also näher zusammenrücken?
Wohnen macht 24 Prozent der Umweltbelastung aus. Weniger Wohnfläche ist also ein Ziel. Also lagern wir zum Beispiel die Gästezimmer oder das Fitnesszentrum aus den Wohnungen aus. Man kann so das machen, was wir in grossen Hotels schätzen: Soziallandschaften kreieren. Ich bin für geteilten Luxus. Es braucht keinen neuen Asketismus – Ökologie ist schliesslich kein Selbstzweck.
Warum schlagen Sie für eine solche Nachbarschaft gerade 500 Bewohner vor?
Das ist keine magische Zahl. Aber es braucht einfach eine gewisse Anzahl Leute, sonst kann man gewisse Sachen nicht machen – so etwa eine sinnvolle Belieferung durch Bauern aus der Region. Oder wollen wir mit einem Mercedes für einen Kessel frische Milch aufs Land fahren? (Lacht.)
Wie soll diese Belieferung funktionieren? Der Selbstversorgungsgrad der Schweiz ist ja nicht gerade hoch…
Die Lebensmittel stammen aus der Umgebung, im Fall Basels auch aus Deutschland und Frankreich – es ist schliesslich kein nationalökologisches Projekt. Im Gegensatz zum Coop gibt es aber kein Verteilzentrum: Die Verarbeitung der Lebensmittel findet in den Nachbarschaften statt. Besonders der Einzelhaushalt ist ernährungslogistisch nämlich eine Katastrophe, heute wird bereits die Hälfte aller Lebensmittel weggeworfen. Daher sollten in den Nachbarschaften die Lebensmittel nicht einfach verkauft, sondern direkt zu Mahlzeiten verarbeitet werden: vom Acker in den Magen!
Sie sprechen von einem sozialen Mix – können also auch Leute mit schmalem Budget in diesen Nachbarschaften wohnen?
Der demografische Mix ist wichtig – sich in Genossenschaften im herkömmlichen Sinn einzusperren, wäre der Tod. Arme Leute sollten sich dort mit Millionären streiten können. Es soll auch eine Ausländerquote geben. Die Nachbarschaft kann nicht den Sozialstaat replizieren, aber mit innerer Solidarität für einen Ausgleich sorgen. In der Genossenschaft KraftWerk1 haben wir etwa syrische Flüchtlinge aufgenommen und wir werden wahrscheinlich den Solidaritätsbeitrag für Mieter mit geringem Einkommen erhöhen müssen.
Worin unterscheiden sich Ihre Nachbarschaften von Genossenschaften, wie wir sie bereits kennen?
Die traditionellen Genossenschaften sind Urbanitätskiller. In den Nachbarschaften geht es hingegen nicht nur um günstiges Wohnen, sondern auch um andere Aktivitäten. Die Gemeinschaftsräume erfüllen die Funktion einer internen Ökonomie. So gibt es etwa im Kraftwerk und in der Kalkbreite im Erdgeschoss Läden, Kinos, Restaurants und Coiffeursalons. Zudem möchte ich zum Ursprungsgedanken der Genossenschaft zurückkehren, zur Selbsthilfe. Nichts hindert uns daran, selbst zu bauen und Mieten an uns selbst statt an Immobilienfirmen zu bezahlen.
Nun gibt es auch Kritik, sowohl von bürgerlicher Seite – man denke etwa an den Kalkbreite-Verriss in der NZZ – wie auch von linken Gegnern der Gentrifizierung. Sie sehen in den Genossenschaften eine Domäne eines alternativen Mittelstands, die schliesslich zur Aufwertung der Quartiere beiträgt.
Zum einen wird der Einkommensmix eingehalten – sowohl in der Kalkbreite wie auch bei uns. Zum anderen wird eben gerade nicht gentrifiziert, wenn normal amortisiert wird. Im Gegenteil: Es wird «commonifiziert» («Commons» sind Gemeinschaftsgüter, Anm. der Redaktion). Es wird also eine marktfreie Nische für Wohnraum geschaffen. Anfangs ist es teurer als rundum, später aber billiger. So haben etwa in Zürich die Genossenschaften um die 20 Prozent der Wohnungen aus dem Markt genommen und damit die Durchmischung der Stadt einigermassen gerettet.
(Bild: Hans-Jörg Walter)
Nun erleben wir aber seit mehreren Jahren eine Rückkehr in die Städte. Ist das eine Chance?
Rein ökologisch betrachtet ist das gut. Wer auf dem Land lebt, schneidet beim Fussabdruck im Schnitt schlechter ab. Dabei kann aber die Stadt zum Luxusort für Reiche werden, denen es in der Agglo langweilig ist. Dann stirbt die Stadt. Nur junge Kreative anzulocken, ist aber auch der falsche Weg. Es braucht nicht bloss Verdichtung, sondern auch Selbstverwaltung. Eine unpolitische Stadt ist keine Stadt.
Was ist sonst noch wichtig?
Die Produktion muss zurück in die Stadt verlagert werden, nicht nur nach China. Ein Handy soll wieder im Quartier hergestellt werden können – die modulare Industrie ist schliesslich die Zukunft. Wie der dänische Stadtplaner Jan Gehl sagt, sollte eine Stadt zudem flanierbar sein: Alle fünf Sekunden muss etwas passieren.
Welches Verkehrskonzept sehen Sie für diese Nachbarschaften und Quartiere vor?
Die in Städten idealen Verkehrsmittel sind der Lift, der Bus und die eigenen Füsse. Trams brauchen hingegen eine schwere Infrastruktur. Busse in verschiedenen Grössen sind da flexibler. Wie beim Fahrdienst Uber könnten sie via Smartphone nach Bedarf bestellt werden.
Und warum nennen Sie das Velo denn nicht?
Das Velo ist als Verkehrsmittel noch effektiver als zu Fuss gehen, stört aber die Urbanität. Beispielsweise haben in Kopenhagen eben gerade die guten Veloverbindungen die Entstehung neuer Vorstädte gefördert. Manche dieser Bewohner sind dann später aufs Auto umgestiegen. In einem Quartier sollte hingegen alles innerhalb von fünf Minuten zu Fuss erreichbar sein – es sei denn, man sucht etwas ganz Spezifisches wie etwa ein Institut für Molekularbiologie.
«Das bedingungslose Grundeinkommen dient höchstens als Schraubenschlüssel in den Speichen des Kapitalismus. Aber um etwas zu bewirken, müssen wir materialistisch denken und nicht mit einer liberalen Citoyen-Fiktion hausieren.»
Und wie soll die Energieversorgung dieser Nachbarschaften aussehen?
Die Energieversorgung ist modular und dezentral. Die Technologie allein wird es allerdings nicht richten. Es ist nötig, drei Viertel der Energie zu sparen und sie möglichst dort zu produzieren, wo man sie braucht: Abwärme aus der Bäckerei zum Heizen, Biogas aus der Landwirtschaft, quartiereigene Geothermie. Das gibt auch weniger Leitungsverlust. Die bestehenden Wasserkraftwerke können erhalten werden, Atomkraftwerke aber nicht. Keinesfalls sollten wir aber die Gegend mit Windkraftwerken zupflastern.
Passt das bedingungslose Grundeinkommen, über das wir bald abstimmen werden, in Ihr Modell?
Überhaupt nicht. Es dient höchstens als Schraubenschlüssel in den Speichen des Kapitalismus. Darum werde ich natürlich Ja stimmen. Eine Kartoffel wächst aber nicht bedingungslos: Wenn der Preis bei 2500 Franken pro Kilogramm liegt, verhungert jemand mit diesem Einkommen. Eine Vollversammlung für die Selbstverwaltung ist damit noch immer nicht organisiert. Um etwas zu bewirken, müssen wir materialistisch denken und nicht mit einer liberalen Citoyen-Fiktion hausieren. Die Idee eines globalen Sackgelds wäre aber nicht schlecht.
Ein anderes Thema, das in Städten bewegt, sind die Auseinandersetzungen um «Freiräume».
Die selbstverwaltete Genossenschaft ist ein Freiraum. Von der Idee vom kompensatorischen Alibi-Freiraum halte ich hingegen nicht viel – das ist ein Anarchie-Zoo – nach dem Motto: «Alles rundum ist überreguliert, aber ihr habt ja da euer Plätzchen.» Ich will hingegen den Freiraum bei mir daheim! Aus meinen Erfahrungen im AJZ kann ich sagen, dass ein Freiraum ohne gut organisierte Selbstverwaltung zu Frustration führt. Er sollte auch nicht zum Ablagerungsplatz für soziale Probleme werden, etwa mit Junkies. Das muss professionell, nicht hobbymässig angepackt werden, sonst sterben diese Leute dort. Ein grosser Freiraum sollten hingegen die Alpen sein – indem man den Tourismus verbietet…
Im Ernst?
Wie die Studie «Die Schweiz – ein städtebauliches Portrait» aufzeigt, ist die Infrastruktur in den Alpen zu teuer und wenig ökologisch. Man könnte sie zur stillen Zone deklarieren. Der Naturraum wäre ein Kontrast zum Mittelland. Mit Bären, Wölfen und wilden Eingeborenen wären die Alpen ohnehin viel spannender.