Schluss, aus, fertig. Nach zwölf Jahren verlässt Urs Wüthrich am Dienstag die Baselbieter Regierung. Reformen hin oder her, als Bildungsdirektor war er erfolgreich. Der Linke brachte im bürgerlichen Baselbiet Vorlage um Vorlage durch.
Da hängt er ja, der Che Guevara, den jetzt alle so gern zitieren. Das Bild in der Ecke des Zimmers ist nicht der romantische Klassiker, den René Burri damals festhielt. Zwar hält der so oft romantisierte Revolutionär die Zigarre in der Hand, aber die Mütze fehlt, am Handgelenk gut sichtbar die Rolex.
Aber es ist nicht das Bild selbst und auch nicht seine Details, die es ins Gedächtnis brennen, es ist die Tatsache, dass immer irgendjemand darauf hinweisen muss. Manchmal ist es der Journalist, oft der Fotograf, aber eigentlich nie der Regierungsrat, der es in seinem Büro selbst an die Wand gehängt hat. An diese Wand neben den überdimensionierten Kunstwerken und der wuchtigen Täferung mit den Einbauschränken, die den Raum im Erdgeschoss des Verwaltungsgebäudes an der Rheinstrasse 33b in Liestal so seltsam drückend machen.
Willkommen im Büro von Urs Wüthrich. Willkommen im holzverkleideten Kleinhirn des Baselbieter Bildungswesens.
Wüthrich geht nach zwölf Jahren Amtszeit und mit ihm verlässt auch die SP die Baselbieter Regierung. (Bild: Hans-Joerg Walter)
Willkommen in seinem «zweiten Wohnzimmer». Da steht man also in diesem Büro, wirklich nicht zum ersten Mal, und wähnt sich immer noch in einem Kabinett, in dieser Mischung aus Rektorat und Direktorenresidenz. Gegenüber dieser freundliche Mann, der nach all den Jahren immer noch etwas verloren wirkt im Raum, etwas reserviert, durchaus charmant, und man denkt sich: Was denkt sich der jetzt? Der denkt doch sicher gerade etwas. Was denkt der bloss?
Die letzte Konfrontation in Amt und Würden
Eine reine Politfigur war Urs Wüthrich nie. Zu menschlich, zu direkt und reflektiert, selten leichtfertig, was ihm selbst seine Gegner attestierten. Wüthrich eröffnet: Am Donnerstag unbedingt die «Basler Zeitung» lesen. Dann erscheine das Interview mit Chefredaktor Markus Somm. Das Interview mit Somm. Ja, sein Interview mit Markus Somm! Er müsse das Gespräch jetzt noch kürzen und dann zum Gegenlesen schicken. Schliesslich muss es rechtzeitig ins Blatt, damit es am Donnerstag auch erscheine.
Diese Freude an der medialen Travestie, an diesem Spiel mit den umgekehrten Rollen. Er, der Regierungsrat, ist jetzt der Journalist und will den Chefredaktor des Blattes in die Mangel nehmen, den Mann, der das Baselbiet aus den Angeln heben wollte.
Ein Abschiedsinterview, ja, aber nicht so, wie man es sich vorstellt. Ein Interview, ganz anders als alle andern. Die letzte Konfrontation in Amt und Würden. Eine kleine Abrechnung mit dem, was den Regierungsrat ärgerte. Und Wüthrich setzt auf die Kraft der Hebelwirkung seiner Fragen.
Diese Lust am Spiel: Urs Wüthrich interviewte Markus Somm. (Bild: Screenshot www.bazonline.ch)
Doch auch die Travestie entfaltet ihre Hebelwirkung: Das Interview wird zur kleinen Apotheose des von der Linken stets angefeindeten Chefredaktors der «Basler Zeitung». Eine kurzzeitige Adelung Somms durch die Tatsache, dass ihn der einzige linke Baselbieter Regierungsrat für seine eigene Zeitung befragt. Ernster kann man nicht genommen werden.
Urs Wüthrich: Mir hat einmal ein BaZ-Journalist gesagt, dass mehr als zwei Recherche-Telefonate die Story zerstören.
Markus Somm: Ich glaube nicht, dass ein Journalist jemals so etwas sagen würde. Selbst, wenn es stimmte.
Wortwörtlich.
Dann handelt es sich aber um einen zutiefst frustrierten Berufskollegen.
Es werden aber immer wieder tatsachenwidrige Feststellungen gemacht. Das habe ich auch schon belegt.
Aber nicht bei uns.
Doch. Kommt hinzu, dass sich die sogenannten Beweise der Medien häufig auf Anekdoten stützen – nach dem Motto: «Der Cousin meiner Nichte hat mir erzählt» oder «Hinter vorgehaltener Hand heisst es».
Ich glaube nicht, dass irgendein Journalist bewusst Lügen verbreitet. Ich bin schon sehr lange in diesem Beruf und kenne viele Journalisten, die mich überhaupt nicht mögen. Doch obwohl über mich sehr viel Unsinn geschrieben wird, würde ich nie behaupten, dass ein Journalist wider besseres Wissen etwas Falsches über mich schreibt. Ein Beispiel: Ein Journalist hatte behauptet, ich hätte mich als Christoph Blochers Statthalter bezeichnet, was ich nie getan habe. Selbst diesem Kollegen würde ich nie unterstellen, dies geschrieben zu haben, obwohl er wusste, dass es nicht stimmt. Nein, er wurde einfach falsch informiert. Das kommt vor.
Wüthrich, Sprecher in eigener Sache
Nehmen wir Platz. Wüthrich weist an den Konferenztisch, er selbst setzt sich unter ein grosses rundes Gemälde in Grün, ohne Hast, ohne Dynamik, mit der sich andere in den Sitz wuchten. Wüthrich ist nicht von grossem Körperbau, er wirkt eher massig, etwas unscheinbar auch in diesem Büro und das grüne Bild lässt ihn noch etwas kleiner erscheinen, wenn er am Tisch sitzt.
Halt. Der dachte sich doch etwas dabei. Der Platz ist genau so gewählt, dass auf dem Foto Gemälde, Mann und Tisch eine Einheit bilden. Passt irgendwie sogar zu Krawatte und grüngrauen Augen. Der Lichteinfall kann Zufall sein. Oder auch nicht. Aber er dachte sich etwas dabei.
«Sie haben ja alle meine Natelnummer.»
Und so dominiert er den Raum, der Urs, mit dem man als Journalist bald mal per Du war, nach einem Apéro im Hotel Engel, zwischen Weissweinglas und Garderobe. Mit dem Urs, der den Journalisten gerne selbst auf die Finger klopfte, wenn sie in seinen Augen zu weit gingen. Der stets auf einen Mediensprecher verzichtete: «Sie haben ja alle meine Natelnummer.»
Wüthrich, der Eigenwillige, der zum Schluss seiner Amtszeit auch mal darauf verzichtete, mit den bürgerlichen Regierungskollegen an einen Tisch zu sitzen: an der Gewerbeausstellung in seiner Wohngemeinde Sissach. Eine Retourkutsche an die bürgerlichen Regierungskollegen? «Nein», sagt Wüthrich. «Ich halte das Kollegialitätsprinzip auch nach zwölf Jahren noch für unverzichtbar und halte mich daran. Eine Regierung hat keine Zeit, ineffizient zu sein. Sie muss kompakt auf- und antreten.»
Zusammen mit Wüthrich verlassen auch die Baselbieter Sozialdemokraten die Regierung. Den Sitz, den Wüthrich in der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion über mehr als eine Dekade ausfüllte, verlor die Partei im Februar an die FDP. Am 1. Juli übernimmt Monica Gschwind, die Hölsteiner Gemeindepräsidentin, die wie er ursprünglich nicht aus dem Baselbiet stammt.
Knappe Wahl, dann aber fest im Sattel
Wüthrich ist Emmentaler und damit Berner, Gschwind ist Luzernerin. Dazwischen liegt nicht nur das Entlebuch, zwischen den beiden liegen auch Welten. Er, der Gemütsmensch, ehemaliger Zentralsekretär der Gewerkschaft VPOD im Bereich Gesundheit, ausgebildeter Psychiatriepfleger. Sie, die kühle Treuhänderin, bürgerliche Gemeindepolitikerin von Hölstein mit klar formuliertem Sparwillen.
Am 30. März 2003 wählten die Baselbieter den damals 49-jährigen Urs Wüthrich in ihre Regierung. Zehn Tage zuvor stand Wüthrich noch in der Poststelle in Arisdorf und gab laut Baselbieter Chronik «7 Couverts zu 800 g mit total 10’000 Unterschriften» adressiert an die Post-Direktion in Bern auf. Wahlkampf mit Genossen: Die Gewerkschaften ersuchten die Post, beim Aufbau eines neuen Briefzentrumnetzes die Region Basel angemessen zu berücksichtigen.
Seine Wahl war knapp; die Baselbieter SP schickte eine Zweierkandidatur in den Wahlkampf, die sich gegenseitig die Stimmen streitig machte. Neben Urs Wüthrich kandidierte Susanne Leutenegger Oberholzer, damals wie heute Nationalrätin der Sozialdemokraten. Wüthrich gelang der Sprung in die Regierung mit 4073 Stimmen Vorsprung. Beide lagen über dem absoluten Mehr.
Geld und Verträge für die Hochschulen
Wüthrich erreichte von allen fünf Gewählten das schlechteste Resultat. Aber da war er nun: der Nachfolger von Bildungsdirektor Peter Schmid, der neue SP-Regierungsrat, der später von sich sagen wird, dass er stets der einzige Linke in der Baselbieter Regierung war. Leutenegger Oberholzer überwand die interne Niederlage gegen den männlichen Konkurrenten rasch: Im Herbst desselben Jahres wurde sie wieder in den Nationalrat gewählt.
Ein Sozialdemokrat übernahm also von einem Sozialdemokraten. Erste Erfolge kamen bald. Schon im November 2003 brachte er die 10-Millionen-Franken-Vorlage zur Anschubfinanzierung eines ETH-Instituts in Basel durchs Parlament; das Institut ist heute das Departement für Biosysteme.
2006 glückt der Entwicklungsschritt von der Fachhochschule beider Basel zur Fachhochschule Nordwestschweiz, 2007 folgt die gemeinsame Trägerschaft der Universität Basel durch Baselland und Basel-Stadt. Damit wurde das Baselbiet endgültig zu einem aktiven Kanton in der nationalen Hochschulpolitik.
Wüthrich hatte nicht nur die langjährigen und teilweise zähen Verhandlungen zu einem Abschluss gebracht, er hatte sich als Bildungsdirektor damit auch etabliert.
Das Stimmvolk dankte es ihm. Wüthrich wurde 2007 mit dem zweitbesten Resultat hinter FDP-Finanzdirektor Adrian Ballmer wiedergewählt. Dasselbe 2011: Wüthrich wurde wieder an zweiter Stelle gewählt. Der Bildungsdirektor aus Sissach, der «Bueb vo Trueb», wie er in Anspielung auf seine Emmentaler Herkunft genannt wurde, sass stimmenmässig fest im Sattel.
HarmoS und Tschüss
Dann kam HarmoS. Die grosse Harmonisierung der Schweizer Bildungslandschaft, einst vom Baselbiet mit einer Standesinitiative vorangetrieben und dann von Parlament und besonders bürgerlichen Parteien scharf kritisiert. Für Wüthrich, der den Beitritt zum Konkordat in unzähligen Sitzungen vorbereitet hatte, war es zuerst aber ein grosser Erfolg: Das Stimmvolk beschloss am 26. September 2010 mit 53 Prozent Ja zu HarmoS und dem Beitritt zum Sonderschulkonkordat. Ein Riesending.
Politisch war die Lage bereits aufgeladen. Besonders die Lehrer kritisierten HarmoS scharf und schliesslich auch den eigenen Regierungsrat. Sie formierten sich zu Protestkundgebungen, Lehrerverbände machten Druck: Die Belastung der Lehrpersonen sei jetzt schon hoch, die Reformen würden sie überstrapazieren.
Doch der Umbau war schon angelaufen. Baselland, von Wüthrichs Vorgänger Peter Schmid bereits als Pionierkanton in der Bildungslandschaft bezeichnet, begann Stück für Stück, HarmoS umzusetzen.
«Das kulturelle Hauptverdienst der FDP bestand höchstens noch aus Rückweisungsanträgen im Parlament.»
Die Reformen waren die politische Hauptangriffsfläche während Wüthrichs letzten rund fünf Jahren. Es war in diesem Bereich, wo die Kritik am heftigsten aufbrandete und bis zuletzt nicht abriss: zu viele Reformen in der Schule, Lehrer verunsichert, das Projekt Lehrplan 21, das keinem zu passen schien.
Eine Steilvorlage, die Monica Gschwind im Wahlkampf Anfang 2015 Auftrieb gab. Einen «Marschhalt» proklamierte sie und meinte damit einen Stopp in der Weiterentwicklung der Bildungslandschaft. Das zog: Die beiden SP-Kandidaten, die auf eine Nachfolge Wüthrichs spekuliert hatten, unterlagen der Kandidatin der FDP.
Die FDP. Ausgerechnet. Die Partei, von der Wüthrich heute sagt, sie habe sich als kultur- und bildungspolitische Gestaltungskraft verabschiedet und deren Hauptverdienst heute «höchstens noch die Rückweisungsanträge im Parlament» seien.
Da sitzt er unter diesem Bild und dominiert den Raum dennoch: Urs Wüthrich hat am 1. Juli seinen letzten Arbeitstag als Baselbieter Regierungsrat. (Bild: Hans-Joerg Walter)
Überhaupt: «Der Umgangston im Landrat ist rauer geworden, das Parlament zersplittert. Der Wandel ist deutlich feststellbar: Als ich noch Fraktionspräsident der SP im Landrat war, war das Parlament deutlich effizienter und berechenbarer.» Der Bruch sei «dann irgendwann gekommen, so genau kann ich das nicht festmachen, aber er war stark bedingt durchs Einschwenken der SVP auf die Zürcher Linie.» Will heissen: Als der wertkonservative, aber ausgeprägt wirtschaftsliberale Kurs der Volksmanager das Baselbiet erreicht hatte.
Härteste Niederlagen «immer als Kulturdirektor»
Deren volle Wucht erlebte er in seinen schmerzhaftesten Niederlagen, bei den Kulturabstimmungen. Die Abstimmung über die Subventionen ans Theater Basel verlor er 2011 hauchdünn. Ironie der Geschichte: Die Abstimmung stürzte auch die FDP in eine innere Krise. Während die alte Garde der Partei für Wüthrichs Vorlage warb, versenkte die Führung der FDP die Subventionen; das Zerwürfnis wurde offen ausgetragen.
Doch die Bürgerlichen hatten Erfolg: Das Stimmvolk versenkte Wüthrichs 17-Millionen-Vorlage mit etwas über 51 Prozent Nein-Stimmen.
Das Leiden des Kantons an seinem Kulturbegriff ist chronisch. «Dabei ist das kulturelle Leben im Baselbiet reich und vielfältig», sagt Wüthrich. Es folgt eine Aufzählung: das Tanztheater Roxy in Birsfelden, das Festival für Neue Musik in Rümlingen, die Alphornbläser der stadtnahen Gemeinde Allschwil, das Kantonsmuseum, das Kunsthaus Baselland, die Chöre, die Blasmusikformationen etc.
«Vielfalt ist das wichtigste Merkmal. Wir sollten kulturell selbstbewusster auftreten, besonders die ländlichen Regionen.» Wüthrich schildert die Krux jeder Kulturpolitik: «Alle glauben, dass was ihnen selbst wichtig ist, muss auch für alle gelten.»
Entsprechend war die Entstehung des Baselbieter Kulturgesetzes eine einzige jahrelange Zangengeburt. Doch Wüthrich kam ans Ziel: Kurz vor seinem letzten Arbeitstag segnete der Landrat das neue Baselbieter Kulturgesetz ab. «Mit Vierfünftelsmehrheit!» Das heisst: Es braucht nicht automatisch eine Volksabstimmung. Ein letzter Triumph für den Mann aus dem Emmental, der bis am letzten Arbeitstag noch mitreden wollte.
Die letzte Spitze an die Nachfolgerin
Und jetzt also das Ende einer zwölfjährigen Amtszeit. Das Ende dreier Amtsperioden, dreimal Wahlkampf, dreimal turnusgemäss Regierungspräsident. Unzählige Anlässe, Angriffe und Apéros später und kurz vor der Umsetzung eines der wohl massivsten Sparpakete in der Geschichte des mittlerweile schwer defizitären Kantons verlässt Wüthrich das Büro mit der Holztäfelung und dem Bild des Widerstandskämpfers. Es war seine zweite Stube, ein Wohnzimmer und der Raum, in dem Urs Wüthrich die Baselbieter Bildungspolitik in einem Zeitraum von 4382 Tagen vielleicht nicht neu erdacht, zumindest aber entschieden hatte.
Am 30. Juni schliesst er zum letzten Mal die Tür zum Büro an der Rheinstrasse 33b. Keine 24 Stunden später ist es das Büro von Monica Gschwind.
Klar bleibe er bis zum Schluss, sagt Wüthrich. Am letzten Tag wird er noch einmal in dieses Büro kommen und den Rest abgeben. Das wars dann. Das Kulturgesetz ist verabschiedet, die Bildungsreformen sind aufgegleist. Er, der damals die grossen Projekte seines Vorgängers abgeschlossen hatte, übergibt an Monica Gschwind, an die Frau mit dem Marschhalt.
«Man kann jederzeit alles stoppen», sagt Wüthrich. «Es fragt sich aber immer, was ein Stopp bedeutet.» Urs Wüthrich, leicht zurückgelehnt im Lederstuhl unter diesem grossen, leuchtend grünen Bild über dem Sitzungstisch, muss diese Frage nicht mehr beantworten. Auch wenn er sich seine Sache dabei schon gedacht hat.