Ein letztes Mal die volle Ladung Ruedi Rechsteiner

Nach 30 Jahren zieht sich der Sozialdemokrat Ruedi Rechsteiner aus der aktiven Politik zurück. Mit ihm verliert die Basler SP ein Stückchen Identität.

Nach drei Jahrzehnten ist Schluss: Ruedi Rechsteiner verlässt die politische Bühne. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Die Augenbrauen gehen bei Bekanntgabe des Abstimmungsresultats leicht nach oben, der Blick wirkt leer: Am Ende sitzt Ruedi Rechsteiner (SP) einfach nur noch da, versucht die Niederlage einzuordnen, sich zu fangen. Vier Jahre lang kämpfte er für den automatischen Steuerabzug vom Lohn, am Mittwoch vernichtete das Parlament in einer zweistündigen Debatte Rechsteiners Anliegen.

Kaum ist der Entscheid bekannt, kommt eine Mitarbeiterin des Parlamentsbüros auf ihn zu: «Sie werden von allen Medien verlangt.» Rechsteiner nickt, verlässt den Grossratssaal, steht vor die Kameras, erklärt, dass er trotzdem zufrieden sei und man nun eine Volksinitiative prüfen wolle. Seine Enttäuschung lässt er sich nicht anmerken.

Der Kampf für den automatischen Steuerabzug vom Lohn war Rechsteiners letzter Auftritt als Politiker nach 30 Jahren. Nächste Woche verlässt er den Grossen Rat, dem er seit 2013 das zweite Mal angehörte.

Kämpfer für eneuerbare Energien

Rechsteiners Abgang erfolgt nicht ganz freiwillig. Ab 2018 darf kein Mitglied des IWB-Verwaltungsrats gleichzeitig auch im Parlament sitzen. Rechsteiner hat sich für die IWB entschieden, er hat mit dem staatsnahen Unternehmen noch etwas vor: «Die IWB bieten heute zu 100 Prozent sauberen Strom an. Nun möchte ich, dass auch die Wärmelieferung sauber wird, mit Fernwärme, neuen Nahwärmenetzen oder dezentralen Wärmepumpen.» Dafür wolle er sich in den nächsten Jahren mit Elan einsetzen, begründet der Ökonom rund 17 Stunden vor der Debatte im Grossen Rat seinen Rücktrittsentscheid – noch zuversichtlich, dass seine Motion eine hauchdünne Mehrheit findet.

Rechsteiner sitzt im Esszimmer seines idyllischen Reihenhauses im Wettsteinquartier, in dem er seit rund neun Jahren mit seiner Frau und seinen beiden inzwischen erwachsenen Söhnen lebt. Das Haus, ein renovierter Altbau, ist wärmeisoliert, hat Solarzellen auf dem Dach und eine Pelletheizung im Keller – wie es sich für ihn gehört. Im oberen Stock hat er sein eigenes Beratungsbüro für Konzepte und Projekte in den Themen «Energie, Energiewirtschaft, Umwelt, Sozialpolitik».

Die Tage von Rechsteiner sind voll, er ist gefragt. Soeben war der 59-Jährige im Bäumlihof-Schulhaus an einem Debattiertag. «Ich war dort als eine Art Boxtrainer zum Thema Atomkraftwerke eingeladen und wurde von drei SchülerInnen getestet. Das hat Spass gemacht.»

«Radioaktivität macht keine Kompromisse, die Atomlobby steht für eine totalitäre Technologie.»

Rechsteiner und das Thema Energie, sie gehen einher. Wie ein Faden zieht sich der Kampf für erneuerbare Energien durch seine Biografie. Auch wenn er mit einem klassischen sozialdemokratischen Anliegen abtritt: bekannt ist er in erster Linie als Energiepolitiker. Es ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, ein Gespräch mit ihm zu führen, ohne dass das Wort Energie in irgendeiner Form fällt oder AKW und CO₂-Emissionen verteufelt werden. So auch an diesem späten Nachmittag.

Sein Festbeissen an diesem Themengebiet erklärt Rechsteiner mit der Härte seiner Gegner, die «militärisch organisiert» seien. «Es braucht eine gewisse Verbissenheit, um die Gegner in die Schranken zu weisen. Radioaktivität macht keine Kompromisse, die Atomlobby steht für eine totalitäre Technologie», sagt er und wird laut.

Rechsteiner holt aus, er ist in seinem Element, erklärt, wie verheerend die Folgen einer AKW-Explosion wären. Denkt er zurück an die Annahme der Energiestrategie durch das Stimmvolk am 21. Mai dieses Jahres, gerät er ins Schwärmen: «Das war einer der bewegendsten Tage meines Lebens.»

Stimmenfänger für die SP

Seine Verbissenheit, sie kommt an bei den Baslerinnen und Baslern. Mit Rechsteiner verliert die Basler SP eines ihrer Aushängeschilder, einen Stimmenfänger, ein Stückchen Identität. Zwei Mal holte der ehemalige Nationalrat bei den Grossratswahlen die meisten Stimmen für die Partei. Mit ihm geht ein SP-Urgestein, das auch in drei Jahrzehnten politischer Arbeit nie abstumpfte, sondern stets vollstes Engagement zeigte – und zwar immer höchst emotional. «Der innerliche Antrieb hat auch mit Emotionen zu tun», sagt er.

Empfand er die Zeit im Grossen Rat nach seinem Mandat im Nationalrat bis 2010 nicht als Rückschritt? Rechsteiner schüttelt den Kopf. Der Aufwand für den Nationalrat sei natürlich ein anderer als für den Grossen Rat. «Am Schluss braucht es aber für beide Mandate gleich viel Beharrlichkeit. Und dank dem Föderalismus ist auch ein kleiner Kanton in vielen Dingen souverän und kann abschliessend wichtige Regeln setzen, gerade im Umweltschutz oder bei der Energie.»

Der Rücktritt aus dem Basler Parlament, in das er das erste Mal 1988 gewählt worden war, sei schon mit Wehmut verbunden, er wäre gerne geblieben, sagt er. Er freue sich jedoch, künftig mehr Zeit für Bücher, Kino- und Theaterbesuche zu haben.

Groll auf die «sogenannte ‹Basler Zeitung›»

Allerdings gab es Debatten im Grossen Rat, bei denen sogar Rechsteiner müde wurde – so beim Thema Parkplätze. «Aber auch solche Diskussionen sind nötig. Und nicht zuletzt müssen auch jüngere Grossräte den Parlamentsbetrieb kennenlernen, das ist ein Suchprozess und da kommen halt auch Ideen, die keinen Erfolg haben». Er selber habe enorm viel von den beiden SP-Grössen Helmut Hubacher und Ruedi Strahm gelernt.

Rechsteiners Sohn kommt ins Esszimmer und sucht das Velolicht. «Wo gehst du hin?», fragt er, nur um kurz darauf zu sagen: «Das muss ich ja eigentlich nicht mehr wissen.» Jetzt, wo die Söhne erwachsen seien.

Rechsteiner im Einsatz für den automatischen Lohnabzug im Grossen Rat.

Rechsteiner spricht nun über das rot-grüne Basel, darüber, dass er zufrieden sei, was die Regierung alles erreicht habe, allen voran in den Bereichen Wohnen und Naherholungszonen. Das Erreichte gelte es nun zu bewahren vor den Angriffen von rechts.

Plötzlich wird Rechsteiner wieder laut. «Was ich aber bedaure, ist die vollkommen destruktive Ausrichtung der sogenannten ‹Basler Zeitung›. Das ist ein Blatt, das jeden Tag mit dem Güllenwagen durch die Stadt fährt, damit alles, was bei uns gut funktioniert, beschmutzt wird und zum Himmel stinkt.» Geht es um die BaZ, wird er richtig wütend, auch weil er in den 1980er-Jahren Wirtschaftsredaktor der Zeitung war.

An der Türe klingelt es, der nächste Termin. Ein Schüler will Informationen von ihm zum Thema Energie. Rechsteiner, der Dozent an verschiedenen Hochschulen ist, verabschiedet sich, besteht darauf, dass die Journalistin noch eine Mandarine mitnimmt. «Die sind bio.» Dann beklagt er sich, dass sein Sohn die Türe nicht richtig zugemacht habe. So geht Energie verloren. «Es ist immer dasselbe.»

Ein Kaffee zum Abschied

Am nächsten Morgen ist Rechsteiner drei Minuten vor Sitzungsbeginn im Grossratssaal. Er spendiert allen Parlamentarierinnen und Parlamentariern zum Abschied einen Kaffee und lauscht den Worten des SVP-Grossratspräsidenten Joël Thüring, der ihn verabschiedet. Rechsteiner ist für einen kurzen Augenblick gerührt, nickt Thüring dankend zu.

Während der Debatte zum direkten Steuerabzug vom Lohn verlässt Rechsteiner seinen Platz kein einziges Mal. Kurz vor 10.30 Uhr steht er das erste Mal am Rednerpult. Es sei «skandalös» und «ungesund», dass 10’000 Personen wegen Steuerschulden in Basel-Stadt betrieben würden – fast ein halbes Joggeli voll, wohlgemerkt.

«Ich werde weiterkämpfen, auch wenn ich nicht im Grossen Rat bin. Das ist nicht der Todesstoss für mich.»

Eine halbe Stunde später hat er seinen zweiten Auftritt. Mit dem direkten Steuerabzug vom Lohn könne man Leid verhindern, sagt Rechsteiner. Um 11.16 Uhr steht fest: Rechsteiners Vorstoss wird mit 48 gegen 47 Stimmen bei zwei Enthaltungen bachab geschickt.

Ob er sich einen schöneren Abgang gewünscht hat? Rechsteiner winkt ab. Er ist nicht eitel. Es ging ihm immer um die Sache, nicht um sich selber.
Politisiert wurde er, wie könnte es anders sein, als 16-Jähriger durch das geplante AKW Kaiseraugst und fand so den Weg in die SP. «Es war ein prägendes Ereignis, das enorme Kreativität freigesetzt hat», sagt er.

Rechsteiner will seinen Abgang aus dem Grossen Rat nicht als Abschied aus der Politik verstehen. «Ich werde weiterkämpfen, auch wenn ich nicht im Grossen Rat bin. Das ist nicht der Todesstoss für mich.»

Ein Leben ganz ohne Politik, das gibt es für Rechsteiner nicht. Es wäre ein Leben gegen seine Prinzipien.

Dossier Grosser Rat

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