«Ich habe nichts dafür geleistet, dass ich in der Schweiz geboren wurde»

Der Berner Rechtsphilosoph Martino Mona über das Recht auf Migration, Rassismus im Netz und Politiker, die die Kontrolle verloren haben – und warum man trotzdem optimistisch in die Zukunft blicken kann.

«Wir nehmen heute die Rolle von aristokratischen Landbesitzern ein, die ihre Privilegien für gottgegeben hielten» – Martino Mona, Professor für Rechtsphilosophie an der Uni Bern, übt Fundamentalkritik an der westlichen Migrationspolitik.

(Bild: Fabian Unternährer)

Der Berner Rechtsphilosoph Martino Mona über das Recht auf Migration, Rassismus im Netz und Politiker, die die Kontrolle verloren haben – und warum man trotzdem optimistisch in die Zukunft blicken kann.

Nicht die Lust an der Provokation ist es, die Martino Mona antreibt. Sondern sein Sinn für Gerechtigkeit. Das behauptet der Berner Rechtsphilosoph jedenfalls, wenn er ein Recht auf freie Migration fordert.

Schon publiziert und doch noch immer lesenswert: Während der Feiertage bis ins neue Jahr publiziert die TagesWche herausragende Artikel mit dem Vermerk «Best of 2015» nochmals. Wir wünschen gute Unterhaltung.

 

Mona, der unter anderem in Oxford und Paris Philosophie und in Bern und Basel Rechtswissenschaften studiert hat, glaubt, dass sich die Schweiz selber beschädigt, wenn sie sich mit allen Mitteln verschliesst, und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, durch «Egoismus und banale Niedertracht erodiert».

Herr Mona, ist die Schweiz ein niederträchtiges Land?

Die Schweizer sind nicht niederträchtig. Aber es gibt schamlose Personen, die gewisse Ängste manipulieren und instrumentalisieren. Ich würde das Bild des Bauernfängers benutzen.

Jedenfalls wird die Asylpolitik immer bizarrer. Die neusten Forderungen stammen von der CVP, die Flüchtlinge zu Fronarbeit zwingen will.

Nennen wir es beim Namen: Die CVP verlangt die Einführung einer modernen Form der Sklaverei. Die Hysterie hat erschreckende Ausmasse angenommen. Das kommt daher, dass sich aus diesem emotionalen Thema leicht politisches Kapital schlagen lässt. Leider haben teilweise auch die Medien diese Hysterie gefördert, indem sie beispielsweise den ganzen Sommer aus irgendwelchen Dörfern berichteten und etwas weltfremde Menschen ausfindig machten, die Angst vor Asylzentren haben. Mich hat das an Urwaldforscher auf Studienreisen erinnert. Ein Run auf die noch verrücktere Story, das seltsamste Menschenbild, die durchgedrehteste Anwohnerin.

Das ganze Land scheint in Panik gefallen zu sein aufgrund von ein paar Tausend Flüchtlingen und deren Unterkünften.

Diese Realität wird konstruiert. Mit den Fakten hat das nichts zu tun. «L‘Hebdo» hat unlängst die Ergebnisse einer breit angelegten Umfrage veröffentlicht, in der gefragt wurde, was man davon halten würde, wenn in der Nachbarschaft eine Asylunterkunft eröffnet würde. Über 54 Prozent der Befragten empfanden das als problemlos. Weniger als 20 Prozent wären ganz dagegen. Das entspricht etwa jenem rechtsnationalen bis fremdenfeindlichen Bevölkerungsteil, den es immer gibt. Aber das Bedenkliche dabei ist, dass die Umfrage praktisch keine Resonanz fand, weil sie nicht zur Wirklichkeit passte, die man konstruiert hat: dass die Schweizer wegen der Flüchtlinge in Panik geraten sind.

Sie werfen Politikern vor, die Bevölkerung zu manipulieren. Diese würden entgegnen: Wir nehmen die Sorgen der Leute ernst.

Ein Politiker, der sich so ausdrückt, behandelt diese Menschen wie unverständige und schutzbedürftige Kinder. Er degradiert sie. Der klassische Fall vom Herrscher, der so tut, als würden ihn die Ängste der Menschen etwas angehen. Überhaupt wollen viele nur, dass man sie in ihren Ängsten und ihren Vorurteilen bestätigt, dass man ihnen recht gibt. Ein Politiker muss solche Ängste nicht ernst nehmen, sondern die Diskussion versachlichen. Er muss die Leute mit den Fakten konfrontieren, nur so nimmt er sie als vernünftige und erwachsene Menschen ernst.

Wer so argumentiert, gilt als volksnah und fürsorglich.

Das ist das Problem. Denn eigentlich ist es eine herablassende Geste. Viel ehrlicher und respektvoller wäre es zu sagen: Schauen wir die Sache mal an, reflektieren wir gemeinsam, was sind die Fakten. Und bei Flüchtlingszahlen, die nicht mal ein Prozent der Bevölkerung erreichen, sind Sorgen und Ängste schlicht und ergreifend nicht nachvollziehbar. Ein bisschen weniger Selbstbemitleidung und mehr Selbstbewusstsein würde sicher guttun. Die einzigen Sorgen und Ängste, die wir in dieser Situation wirklich ernst nehmen müssen, sind diejenigen der notleidenden Flüchtlinge.  

Die Fremdenfeindlichkeit hat in der Schweiz nicht zugenommen?

Fremdenfeindlichkeit lässt sich nicht genau messen. Interessanter ist der Umgang der Politik mit latenten Ängsten vor dem Fremden. Schauen Sie sich die Schwarzenbach-Initiative von 1970 an. Die passierte zu einer Zeit, die heute übrigens glorifiziert wird. Heute heisst es, die damaligen Ausländer, meistens Italiener, seien so gewesen wie wir und deren Integration sei problemlos abgelaufen. Damals galten sie aber in breiten Kreisen als «artfremdes Gewächs», und sie waren in der Öffentlichkeit unerwünscht. Hunderttausende Italiener hätten ausgewiesen werden müssen, wenn der Ja-Anteil nur vier Prozent höher gelegen hätte. Viele Schweizer hatten damals Ängste wegen der Überfremdung durch Italiener. Und damals wie heute wurden diese Ängste von populistischen Politikern manipuliert und instrumentalisiert. Man kann aus Fehlern der Vergangenheit lernen und bestehende Vorurteile hinterfragen oder eben nicht.

Die Vergangenheit wird geschönt, um sagen zu können: So schlimm wie heute war es noch nie?

Genau. Rückblickend gilt heute sogar die Bewältigung der Kosovokrise als musterhaft. Klar haben wir damals über 200’000 Flüchtlinge aufgenommen, heisst es, aber die seien als Europäer ja aus einem ähnlichen Kulturkreis gekommen. Das konnten wir sehr gut bewältigen. Heute können wir unmöglich so viele aufnehmen, die kommen ja aus Afrika, dem Mittleren Osten. Dass auch damals Asylbewerberheime angezündet wurden und Neonazis durch die Strassen marschierten, wird ausgeblendet. Was schon vorbei ist, wird idealisiert. Die Botschaft soll lauten: Damals hatten wir es im Griff, doch heute ist alles ausser Kontrolle, weil wir nicht mehr hart genug sind, weil wir die Grenzen geöffnet haben. Eine faktische Grundlage hat diese Behauptung nicht. Seit damals hat die Schweiz ihr Asyl- und Ausländergesetz mehrfach verschärft. Das Resultat ist ein groteskes System von Verboten, Strafen und Hindernissen, das Eigenverantwortung und Freiheit zerstört. Ein Paradebeispiel für aufgeblähte Staatsbürokratie. Und alles für ein an sich völlig natürliches Phänomen, die Migration von Individuen, das mit den üblichen möglichst minimalen Verwaltungsprozessen geregelt werden könnte.   

Seit Wochen laufen Horrorbilder von Flüchtlingen im Mittelmeer und Mazedonien über die Bildschirme. Haben Sie gehofft, die Bilder könnten ein Umdenken auslösen?

Das Umdenken findet statt. Es ist sehr erbärmlich, dass es so viele Tote direkt vor unserer Haustür brauchte, aber das Umdenken findet statt. Es wird aber noch nicht genügend abgebildet. Viele sind bereit, viel mehr Flüchtlinge aufzunehmen, allein aus Gründen der Menschlichkeit. Wenn 54 Prozent der befragten Leute nichts gegen ein Asylbewerberheim in ihrer Nachbarschaft einzuwenden haben, ist das viel aussagekräftiger als Anekdoten von irgendwelchen Schweizern in Chiasso, die gerade wegen ein paar Dutzend Eritreern ausflippen. Dass es heute eine Partei gibt, welche zur Abschreckung potenzieller Flüchtlinge die Einführung einer modernen Form der Sklaverei verlangen kann, ist sehr gravierend. Diese Politiker haben die Kontrolle über das Rad, an dem sie ständig drehen, komplett verloren.

«Die Hoffnung auf Freiheit und Frieden und das Streben nach dem eigenen Glück sind letztlich immer stärker als Verbote.» (Bild: Fabian Unternährer)

In ganz Europa werden die Gesetze verschärft. Grossbritannien will Hausbesitzer mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestrafen, die an illegale  Einwanderer eine Wohnung vermieten. Wer kann diese Entwicklung noch stoppen und das Rad anhalten?

Das wird letztlich anhalten, so wie andere Formen der Demagogie und der Unterdrückung gestoppt wurden. Da müssen und können wir optimistisch sein. Die momentanen Blockaden und populistischen Rückfälle sind als unnötiger Aufschub des letztlich doch stattfindenden Fortschritts hin zu mehr Freiheit zwar unerfreulich, sollten uns aber nicht entmutigen: Jede Form von Ungerechtigkeit hat ein Verfallsdatum. Es müssen genügend Stimmen da sein, die eine sachliche und grundsätzliche Diskussion führen. Es braucht eine ständige Gegenbewegung. Irgendwann wird man realisieren, dass man in der heutigen Migrationspolitik einen grundlegenden Fehler macht.

Was für einen Fehler?

Die Fehlvorstellung, dass man es bei der Migration mit einem illegalen Verhalten zu tun hat. Man wird zurückkehren zum Grundsatz, dass der Mensch ein Recht darauf hat zu migrieren, ein Recht auf Bewegungsfreiheit. Nicht allein aus Idealismus, sondern weil die ganze Abschreckungspolitik und Bürokratisierung die Situation erst eskalieren lässt. Die echten und vermeintlichen Probleme, die wir heute haben, Einheimische, die in hysterische Panik geraten, die Volkshetze, Flüchtlinge, die elendiglich sterben, mafiöse Schlepperbanden, sind durch die repressive Bürokratisierung der Migration entstanden. Ein Phänomen, das ganz natürlich ist und in einer modernen Rechtsordnung ohnehin stattfindet. Die Hoffnung auf Freiheit und Frieden und das Streben nach dem eigenen Glück sind letztlich immer stärker als Verbote, ja selbst stärker als die Angst vor dem Tod. Man wird auch erkennen, dass sich höchstens ausgeprägt totalitäre Regimes von Flüchtlingen und Migranten abschotten können. Das stellt uns vor die Wahl, selber ein totalitäres System zu installieren und damit auch unsere eigenen Freiheiten zu opfern, oder damit aufzuhören. Gerade auch die Politiker, die sich «Freiheit» auf ihre Fahnen schreiben, sollten das ohne Weiteres einsehen können.

Sie nehmen einen Verdrängungseffekt auf dem Arbeitsmarkt in Kauf?

Ja, teilweise. Aus dem einfachen Grund, weil keiner ein Vorrecht hat, nicht verdrängt zu werden. Landbesitzer nicht gegenüber einfachen Bürgern, Männer nicht gegenüber Frauen, Einheimische nicht gegenüber Ausländern. Auch dieses Privileg muss hinterfragt werden. Ich habe nichts dafür geleistet, dass ich in der Schweiz geboren wurde und damit vom Wohlstand und dem funktionierenden Arbeitsmarkt profitiere, es ist reiner Zufall. Genauso wenig wie der Sohn eines Fürsten etwas geleistet hat für die Ländereien, die er geerbt hat. Zufälligkeiten sollen nicht verstetigt werden. Privilegien muss man durch Leistung bestätigen, sonst soll man sie verlieren können. Wird das durch übermässige staatliche Intervention blockiert, wie es zurzeit in der Migrationspolitik der Fall ist, stört man die wichtigste Dynamik der Entwicklung der Zivilisation: das eigene Streben nach Glück.

Würde eine freie Migration nicht faktisch zur Abschaffung des Nationalstaats führen?

Das glaube ich nicht. Der Nationalstaat ist das Organ, das die Gesetze macht. Es braucht eine Organisationseinheit, die dafür sorgt, dass es für Menschen attraktiv ist, hier ihr Glück zu suchen. Die Verhinderung von Freiheiten und individuellen Rechten stellt die viel grössere Gefahr für unseren Staat dar als ein paar Tausend Flüchtlinge, die hierher kommen wollen. Ein Land ist ja nicht nur ein geografisches Gebilde, sondern ein ideelles, eines der gemeinsamen Werte. Aber unser Selbstbild als freiheitliches, dem einzelnen Menschen und dem Recht verpflichtetes Land erodiert gerade massiv, unsere Grundwerte bröckeln. Nicht weil Migration stattfindet, sondern weil wir in exzessiver und freiheitsgefährdender Weise darauf reagieren.

«Repressive Gesetzgebung gegen Ausländer ist automatisch hemmungsloser und uneingeschränkter, weil die Autokontrolle fehlt.»

Gegen die Öffnung der Grenzen werden auch Sicherheitsbedenken angeführt.

Wir haben heute mithin eine Migration, welche die Gefahr des islamistischen Terrorismus mit sich trägt. Das lässt sich nicht negieren. Aber Terrorismus funktioniert nur, solange man sich terrorisieren lässt. Terroristen wollen gewisse Kulturwerte aufeinanderprallen lassen und so einen moralischen Sieg herausholen. In einem militärischen Sinne können sie nicht gewinnen. Darauf sind sie auch nicht ausgerichtet. Sie gewinnen aber, wenn sie bei uns eine Werteveränderung herbeiführen, wenn wir neue radikale Abschreckungsmassnahmen beschliessen, wenn wir uns von den Werten der Freiheit und der Gerechtigkeit abwenden, die sie hassen, wenn wir letztlich so werden wie sie. Die Gefahr ist wie bei der Migration nicht der Terrorismus an sich, sondern die rechtsstaatlich höchst fragwürdige Reaktion darauf.

Nicht nur bei Migration und Terrorismus führt eine Hysterie zu Gesetzesänderungen. Die Schweiz hat auch gesonderte Gesetze gegen Raser und Pädophile oder kriminelle Ausländer erlassen…

Tendenziell gegen Gruppen, die man möglichst gut definieren kann. Sobald man kategorisieren und schubladisieren kann, werden die Gesetze hemmungslos. Bei den Ausländergesetzen ist das am augenscheinlichsten. «Ausländer» ist das Kriterium, das kein Schweizer jemals erfüllen wird. Deshalb ist repressive Gesetzgebung gegen Ausländer automatisch hemmungsloser und uneingeschränkter, weil die Autokontrolle fehlt.

«Die Vorstellung, dass hundert Online-Kommentare die politische Realität abbilden, ist grotesk.»

Was halten Sie von den Spezialgesetzen?

Der Gesetzgeber muss differenzieren können, das ist wichtig und zulässig. Aber es braucht ein Korrektiv. Ich kann ein Gesetz machen, das Pitbull-Besitzer zu einer Bewilligungspflicht zwingt. Aber ich muss mir dabei die Frage stellen, ob ich das auch in Ordnung fände, wenn ich selber einen Pitbull besässe. Ich muss ein Gesetz auch auf mich anwenden wollen. In der Debatte um die Rasergesetze merkten die Leute irgendwann, dass nicht nur junge Männer vom Balkan davon betroffen sein könnten, sondern auch sie selber. Dann war in den Online-Kommentaren plötzlich nichts mehr davon zu lesen, dass man diese Raser doch einfach alle an die Wand stellen sollte. Während es weitgehend gelungen ist, ein Gefühl des Gemeinsinns zu schaffen im Hinblick auf die Bedürfnisse von einheimischen Gruppen, wird die Migrationspolitik dominiert von der Unterscheidung in «Wir» und «Andere». Das Resultat ist eine selektive Gesetzgebung, die jegliches Mass verloren hat, weil sie eben nicht «uns» betrifft, sondern nur andere Menschen, die wir selber nie sein werden und zu denen wir oft kaum einen Bezug haben.

Online-Foren scheinen auch ihren Teil zur hysterischen Stimmung gegen Flüchtlinge beizutragen.

Was in diesen Online-Foren geschieht ist phänomenal. Wie da eine gesellschaftliche Realität geschaffen wird über ein paar Kommentare, ist unglaublich. Eine fiktive Realität, an der viele Menschen aber naturgemäss ihre eigenen Entscheidungen und ihr Verhalten ausrichten. Intuitiv liegt es auf der Hand und von mehreren Studien wurde es bestätigt: Der Inhalt der Kommentare beeinflusst die Meinung, die man sich über den Inhalt des Artikels bildet. Für viele ist es viel aussagekräftiger und relevanter, was die «Schweizer» in den Kommentaren so meinen, als was irgendein Journalist schreibt. Die journalistische Arbeit wird durch die Kommentare unterwandert. Weshalb so viele Medien das noch zulassen, ist für mich rätselhaft. Es ist auch klar, dass sich gewisse Leute dort tummeln, aber die Mehrheit draussen bleibt. Ich stell mir da vor allem Leute vor, die in einer gesellschaftlichen Runde oft schräg angeschaut werden, wenn sie etwas sagen – und das zu Recht. Anonym können sie ihre Ansichten dann aber problemlos im Forum platzieren und mit Gleichgesinnten teilen. Die Vorstellung, dass hundert Kommentare und ein paar hundert Likes die politische Realität abbilden, ist natürlich grotesk, aber eben auch sehr verführerisch.

«An dieser Entmenschlichung zerbrechen Staaten.»

Die Kommentare verzerren das Bild der Flüchtlingskrise?

Sie sind Teil des Phänomens einer konstruierten Wirklichkeit, um die sich dann die irre gewordene Politik dreht. In mehreren Ländern haben viele Medien die anonymen Kommentarforen schon lange abgeschafft und durch nicht-anonyme Formen der Beteiligung an der Meinungsbildung ersetzt, das müsste man in der Schweiz auch tun. Wer Fanatikern eine Plattform bietet, gegen Asylbewerberheime zu pöbeln, öffnet die Büchse der Pandora. Die Berichterstattung muss viel vorsichtiger werden, weil die Stimmung emotional rasch kippen kann und viele Menschen dann nicht mehr zurückzuholen sind. Mittlerweile sind schon zu viele überzeugt von ihrer Abwehrhaltung, dass sie selbst angesichts der Tausenden von Toten die menschliche Reaktion des Mitleids abwürgen können. Kein Bild, keine Schilderung der Tragödie holt sie mehr zurück. Die anerkanntermassen illusorische Forderung, man solle doch viel besser «vor Ort» helfen, ist dann ein netter und schmerzloser Ausweg, um angesichts der Tragödien nicht sagen zu müssen, wir wollen diese Flüchtlinge trotzdem nicht bei uns.

Das ist das Schockierende.

Sehr erschreckend, in der Tat. An dieser Entmenschlichung zerbrechen Staaten. Fast jede unserer Legenden, Kulturgüter wie die Bibel, viele Geschichten, viele Filme, haben das Ziel, den Menschen Mitgefühl zu lehren, Solidarität vor allem mit den Schwächeren zu demonstrieren. Der Held ist derjenige, der sich aufopfert, der sich in die Lage des anderen versetzt, der nicht egoistisch denkt, sondern sich auch für den anderen einsetzt. Warum ist das so? Weil die Menschheit realisiert hat, dass das zum Fundament einer lebenswerten Gesellschaft gehört. Und wir sollten nicht vergessen, dass der mächtigste Akt der Solidarität nicht in der blossen Hilfeleistung besteht, sondern in der möglichst weitreichenden Gewährung von Freiheiten auch für die anderen. Auf den Punkt gebracht hat das Abraham Lincoln: Wer anderen Freiheit vorenthält, hat sie selber nicht verdient.

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