Kein Untergang, sondern Auftrieb für eine neue Debatte

Die Schweiz ging nach der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative nicht unter. Noch nicht einmal umgesetzt, zeigt der neue Verfassungsartikel bereits Wirkung. Dabei erhalten auch linke Anliegen Auftrieb.

16 Monate ist es her, seit die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen wurde. Noch nicht einmal umgesetzt, trägt die Initiative bereits Früchte. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Die Schweiz ging nach der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative nicht unter. Noch nicht einmal umgesetzt, zeigt der neue Verfassungsartikel bereits Wirkung. Dabei erhalten auch linke Anliegen Auftrieb.

Erst kam der Schock, dann die Ernüchterung. Als die Schweizer Stimmbevölkerung am 9. Februar 2014 die Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) annahm, ging für die Gegner der Vorlage eine Welt unter. Anderthalb Jahre später hat die Schweiz einen neuen Verfassungsartikel und ist weder eine Insel noch ein Unrechtsstaat, wie es die MEI-Gegnerschaft befürchtet hatte.

Bundesrat, Parteien und Verbände suchen – bislang zwar erfolglos – einen Weg, um den Verfassungsartikel umzusetzen, den das Stimmvolk damals knapp angenommen hatte. Doch die SVP-Initiative hat auch ein paar Dinge angestossen: eine zögerlich an Fahrt aufnehmende Migrationsdebatte und Anliegen, die bislang die Linke exklusiv besetzt hielt.

Wochenthema Zuwanderung
Wie geht es weiter mit der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative? Welche Position vertritt der Grenzgänger-Kanton Basel-Stadt? Lesen Sie mehr dazu in unserem Dossier.

Auf die Frage, ob er der MEI etwas Positives abgewinnen könne, antwortet der Grünen-Nationalrat Balthasar Glättli nur zögerlich. Er begrüsse es zwar, dass einige grüne Anliegen nun mehr Unterstützung genössen, «die negativen Folgen der MEI überwiegen aber deutlich».

Es ist das Dilemma, in dem derzeit viele linke Politiker stecken: Die Vorlage, die sie so vehement bekämpften, hilft ihnen nun in Teilen, ihre eigenen Ziele zu verfolgen.

  • Flüchtlingspolitik: Glättli setzt sich seit Jahren dafür ein, dass diejenigen Menschen, die in der Schweiz Asyl erhalten, schneller in die Arbeitswelt integriert werden. Nun finden Glättlis Anliegen auch beim Staatssekretariat für Migration (SEM) Anklang. Das SEM lancierte vor drei Wochen ein Pilotprojekt, bei dem anerkannte Flüchtlinge in der Landwirtschaft arbeiten können. Ein Baselbieter Bauer praktiziert das seit über 20 Jahren, nun sollen Flüchtlinge in der ganzen Schweiz auf Bauernhöfen arbeiten können. Der Zusammenhang zur MEI ist naheliegend: Bauern sollen ihre Tagelöhner nicht aus Polen rekrutieren, sondern auf Menschen zurückgreifen, die bereits in der Schweiz leben, als Arbeitskräfte bislang aber nicht zum Einsatz kamen – zum Beispiel anerkannte Flüchtlinge, die gerne arbeiten würden, aber oft keine Stelle finden.
  • Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Auch diese alte linke Forderung steht auf der politischen Agenda neuerdings ganz oben. Mit mehr Betreuungsangeboten könnten gerade gut qualifizierte Frauen ins Berufsleben zurückgeholt werden, so die Ansicht des Bundesrats, der vor drei Wochen einen Förderbeitrag von 100 Millionen Franken für Kinderbetreuung sprach. Bereits im vergangenen Herbst stimmte das Parlament einer Verlängerung der Anstossfinanzierung für Kindertagesstätten zu – das Projekt Kinderbetreuung wird vorangetrieben. «Wann, wenn nicht jetzt», sagt SP-Nationalrätin Silvia Schenker zur Förderung von familienergänzender Kinderbetreuung. Die Kinderbetreuung erhalte auch wegen der MEI Aufwind. «Wir müssen die Situation nutzen, um das Anliegen voranzutreiben.»
  • Fachkräftemangel: Seit Jahren setzen sich linke und bürgerliche Politiker dafür ein, dass mehr Fachkräfte in der Schweiz ausgebildet werden. Die Forderung verhallte im Bundesparlament, nur Insider interessierten sich dafür. Heute schalten linke Politiker Wahlwerbung, die den Fachkräftemangel thematisieren. Die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz wirbt offensiv für mehr inländische Fachkräfte. In dieser Form hätte sie das vor eineinhalb Jahren kaum getan: «Weder das Parlament noch die Öffentlichkeit interessierte sich damals für das Thema», sagt sie. Das habe sich mit der MEI geändert. «Insofern ist das eine positive Seite der Abstimmung.» Das Thema ist heute nicht nur beim Bundesrat angelangt, auch die Wählerinnen und Wähler wissen, wie dringend die Ärzteausbildung in der Schweiz ist. Der Druck auf den Bundesrat ist entsprechend gross. Dieser muss die Fachkräfte-Initiative in absehbarer Zeit umsetzen.

Die Masseneinwanderungs-Initiative stiess nicht nur liegengebliebene Projekte an, sie veränderte auch den politischen Diskurs. «Das Ja zur MEI wirkte nicht nur wie ein Schock, es bewirkte auch, dass einzelne Tabus gefallen sind und eine Debatte in Gang gekommen ist», sagt der Politologe Mark Balsiger.

Die Zuwanderung ist heute – mehr noch als zuvor – ein Dreh- und Angelpunkt der Politik. Egal, ob Nationalräte über Frankenstärke, Lehrlinge oder den lokalen Gemüsehandel sprechen, das Wort «Masseneinwanderungs-Initiative» taucht in fast jeder politischen Diskussion auf.

Das hat durchaus positive Effekte: Die Migrationsdebatte wird nicht länger den Rechtspopulisten überlassen; die MEI zwingt Mitte- und Links-Parteien zu einer ausländerpolitischen Haltung. In der Region Basel bekannten sich beispielsweise alle Parteien ausser der SVP zu einer offenen Politik gegenüber Grenzgängern.

Dazu kommen neue Organisationen, die bei der Migration mitreden wollen. «Operation Libero» entstand als direkte Folge der MEI, die neugegründeten Vereine «Vorteil Schweiz» und «Schutzfaktor M» sehen sich als Gegenpol zur SVP-Schweiz – sie sind die Kinder des 9. Februars, ihre politische Kraft entfaltet sich beim Thema Menschenrechte und Europapolitik.

EU-Beitritt als Option

Möglich, dass auch die SP aus ihrer reaktiven Rolle bei der Europa-Frage findet. Bislang reagierte die Partei nur auf die aktionistische Politik der Rechten. Der Taktgeber der Linken, Christian Levrat, spricht gerne über eine «offene Schweiz», wofür die SP stehe. Was dies konkret bedeutet, darüber schwieg sich Levrat bislang aus.

Das ändert sich nun. In der Vernehmlassungsantwort der SP zur MEI-Umsetzung spricht Levrat vom EU-Beitritt als einer «Option» – Töne, die die SP sonst nicht öffentlich anschlägt.

Augenfällig ist auch, dass die SVP seit der Annahme der MEI weitgehend auf Messerstecher-Plakate und Ausländer-Bashing verzichtet. Die Partei konnte seit der Annahme der Vorlage kaum neue Akzente setzen. Die Pläne für eine radikale Asylinitiative legte die Parteileitung auf Eis, die Initiative gegen «fremde Richter» findet wenig Anklang. Die Partei fokussiert ihre Energie voll und ganz auf die Umsetzung des Verfassungsartikels. Solange die Umsetzung in der Schwebe ist, kann die SVP nicht nachlegen – ihre Ausländerpolitik ist quasi blockiert.

Die Schweiz ist am 9. Februar 2014 nicht untergegangen. Aus einer in sich widersprüchlichen Initiative und einer emotionalisierten Kampagne wuchsen Denkanstösse, wie eine neue, offene Schweiz aussehen könnte.

Und das Beste zum Schluss: Die Stimmbevölkerung wird voraussichtlich an der Urne nochmals entscheiden dürfen, wie sie mit Europa und der Zuwanderung umgehen will.

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