«Was sage ich einmal meinem Sohn, wenn er fragt, was ich damals gemacht habe?»

Ein Jugendtreff und eine Schule für Flüchtlinge: Baschi Seelhofer erklärt, wie er mit seinem Hilfswerk «Be aware and share» auf der Insel Chios diese Aufgabe anpackt. Herausforderungen sind etwa aggressive junge Männer und Vorurteile zwischen den verschiedenen Kulturen – aber auch die derzeitige Politik der EU und der Türkei.

«Ich möchte in 15 Jahren nicht sagen müssen, dass ich damals nur Pokémon Go gespielt habe»: Baschi Seelhofer widmet sich ganz der Arbeit mit Flüchtlingen.

(Bild: «Baas»)

Ein Jugendtreff und eine Schule für Flüchtlinge: Baschi Seelhofer erklärt, wie er mit seinem Hilfswerk «Be aware and share» auf der Insel Chios diese Aufgabe anpackt. Herausforderungen sind etwa aggressive junge Männer und Vorurteile zwischen den verschiedenen Kulturen – aber auch die derzeitige Politik der EU und der Türkei.

Baschi Seelhofer (29), Gründer des Hilfswerks «Be aware and share» (Baas),  blickt auf ein bewegtes Jahr zurück: Alles begann im Sommer 2015 mit der Flüchtlingskrise. Zusammen mit seinem Team organisierte er Hilfsgütertransporte an die ungarisch-kroatische Grenze. Es folgten Einsätze für gestrandete Flüchtlinge auf der griechischen Insel Chios. Dort ist Seelhofer geblieben: Mittlerweile hat er seinen Job als Jugendarbeiter in der Schweiz ganz an den Nagel gehängt und widmet sich ausschliesslich den Hilfsprojekten. Vor rund zwei Monaten stellte sein Team die erste Schule für Flüchtlinge ausserhalb eines Camps auf die Beine.

Das neuste Projekt: ein Jugendtreff für Flüchtlinge. Im Interview erklärt Baschi Seelhofer, wie er es schafft, dort Problemjugendliche einzubinden, wie sich sein Projekt finanziert und welche Auswirkungen der EU-Türkei-Deal auf seine Arbeit hat. 

Baschi Seelhofer, Sie sind nun wieder für ein paar Tage weg von den Flüchtlingscamps und in der «heilen Welt» in Basel. Wie nehmen Sie diesen Kontrast wahr?

Ich habe gemischte Gefühle. Das beginnt schon bei der Reise: Es wird mir bewusst, wie einfach es eigentlich ist, zu reisen. Im Gegensatz zu den festsitzenden Flüchtlingen muss ich als Schweizer manchmal nicht einmal meine ID zeigen. Es ist eindrücklich, zu sehen, wo wir stehen und andere nicht. 

Sie hatten einen festen Job bei Jugendarbeit Münchenstein sowie zwei weitere Standbeine im Sozialbereich. Diese Stellen haben Sie mittlerweile aufgegeben. Wie kam es dazu?

Letzten September versuchte ich noch, die Tätigkeit an der Balkanroute parallel zu meinem Job auf die Reihe zu bekommen. Manchmal war ich bis zu zwei Wochen weg, um nachher doppelt so viel zu arbeiten. Mit der Zeit wurde das einfach zu viel. Anfang Dezember hat sich die Entscheidung, den Job aufzugeben, dann herauskristallisiert. Um die Flüchtlingshilfe nachhaltig aufzubauen, braucht es mindestens zwei Leute, die ständig vor Ort sind. Ich möchte aber betonen, dass es noch mehr braucht: Das Kernteam besteht aus 14 Leuten – ohne diese würde nichts laufen. Leute wie Jacob Rohde aus Berlin, der seit Februar auch auf Chios wohnt, und Mara Massari, die sich um Administration und Buchhaltung kümmert, sind wichtige Pfeiler, die man nicht oft in den Medien sieht.

Bereitete Ihnen der Entschluss, alle Jobs an den Nagel zu hängen, nicht vorher schlaflose Nächte?

Ich bekam eher nach dieser Entscheidung kalte Füsse. Gleichzeitig sah ich es als Chance – ich bin nicht verheiratet, habe noch keine Kinder und in der Sozialarbeit findet man schnell wieder einen Job. Zudem überlegte ich mir, was ich sagen werde, wenn mich in 15 Jahren mal mein Sohn fragt, was ich während einer der grössten Menschenwanderungen gemacht habe. Ich möchte dann nicht antworten müssen, dass ich damals nur «Pokémon Go» gespielt habe.



Gegen den Alltagstrott und die Langeweile im Camp: Im Juli gründete «Baas» auf der Insel Chios den ersten Jugendtreff für Flüchtlinge. Dabei ist bei der Gruppenbildung viel Fingerspitzengefühl gefragt.

Gegen den Alltagstrott und die Langeweile im Camp: Im Juli gründete «Baas» auf der Insel Chios den ersten Jugendtreff für Flüchtlinge. Dabei ist bei der Gruppenbildung viel Fingerspitzengefühl gefragt. (Bild: Baas)

Wie können Sie nun Ihr Leben finanzieren?

Wir haben Leute gesucht, die eine Patenschaft für die Volontäre übernehmen. Mit 100 Paten, die 35 Franken pro Monat bezahlen, kommen wir so auf 3500 Franken. Das reicht, um das «Volunteer Apartment», wo die Helfer gratis wohnen, zu bezahlen, ebenso die Verpflegung und die Einsatzfahrzeuge.

Das ist aber nicht zu verwechseln mit den Spendengeldern.

Ja, die Spenden sind getrennt von der Patenschaft. Was man spendet, kommt vollumfänglich der Schule für Flüchtlinge zugute.

Dennoch ist es wohl ein bescheidenes Leben als Einsatzleiter auf Chios. Müssen Sie auf vieles verzichten?

Schon – ich habe dieses Jahr nur zwei Wochen Ferien. Handkehrum wache ich morgens auf und sehe das Meer. Wir wohnen zu zwölft in einer Vierzimmerwohnung. Das heisst, dass man während 24 Stunden mit den Kollegen zusammen ist. Ich bin sehr gerne unter Leuten, doch manchmal gibt es schon Phasen mit Gruppenkoller.

«Ich habe fast nur positive Erlebnisse. Mich erstaunt die Verbindlichkeit von Jugendlichen – das hab ich in der Schweiz nicht erlebt»: Baschi Seelhofer zieht nach den ersten beiden Wochen des Jugendtreffs eine positive Bilanz. Allmählich sollen auch die «Troublemakers» integriert werden.

Sie haben vorhin die Troublemaker erwähnt, die im Camp Feuer legten. Konnten Sie auch die überzeugen, den Jugendtreff zu besuchen?

Bei vier bis fünf von ihnen hat es geklappt. Sie sind auf zwei Gruppen mit je 15 Personen aufgeteilt. In dieser Zusammensetzung funktioniert das. Sie merken, dass sie dort ernst genommen werden. Im Camp müssen in erster Linie die Kinder, Frauen und älteren Leute geschützt werden, doch um die Problemjugendlichen schert sich kein Mensch. Im Jugi realisieren sie, dass wir ihnen einen Platz geben.

Können Sie ein Beispiel machen?

Einer von ihnen wollte die gemeinsam erarbeiteten Hausregeln brechen und drinnen rauchen – um zu schauen, was dann passiert. Ihm nun deswegen ein Hausverbot zu erteilen, wäre falsch. Ich nahm ihn mir zur Brust und machte ihm klar, dass das hier nicht gehe, er aber herzlich willkommen sei, wiederzukommen. Er machte nach dieser Reaktion verwunderte Augen.

Sie haben die Vorurteile zwischen den verschiedenen Kulturen erwähnt. Wie wirkt sich das im Jugendtreff aus?

Wir haben 120 Jugendliche in durchmischten Gruppen. Es gibt aber auch sieben Pakistaner, die sagen, dass sie nichts mit Syrern zu tun haben wollen. Wir können nicht als Experiment beide Gruppen zusammenstecken, möchten aber für die Problematik sensibilisieren. So gibts etwa eine Fotowand beim Eingang, wo die Jugendlichen ihre Erlebnisse festhalten. Damit sollen sie merken, dass sie einander ähnlicher sind, als sie denken.

Wie ist das Verhältnis zwischen den Flüchtlingen und den Einheimischen auf Chios?

Es wird angespannter, besonders seit dem Deal zwischen der EU und der Türkei. Es kam schon vor, dass Leute die Strasse für den Shuttlebus absperrten oder Steine warfen. Man darf nicht vergessen, dass Griechenland noch immer in einer Finanzkrise steckt. Diese Doppelbelastung spürt man. Dennoch stelle ich bei den Griechen einen wahnsinnig souveränen Umgang fest: Man stelle sich vor, in der Schweiz würde – im Vergleich zur Bevölkerungszahl – eine derart grosse Menge an Flüchtlingen feststecken.

Welche Folgen für Chios hat der Deal zwischen der EU und der Türkei, der am 20. März in Kraft trat?

Die Camps wurden innerhalb von 36 Stunden geräumt. Laut dem Deal müssten alle Flüchtlinge auf der Insel zurück in die Türkei geschickt werden, was jedoch nur in einem kleinen Rahmen geschieht.

Warum denn?

Gründe dafür sind bürokratische Hürden, die schwierige Zusammenarbeit zwischen Griechenland und der Türkei sowie diverse Mechanismen, die wir leider nicht durchschauen können. Momentan befinden sich daher 2500 Flüchtlinge auf der Insel. Viele kamen zwischen dem 20. und 24. März an – in der Hoffnung, weiterreisen zu können. Seither stecken sie fest: Sie können weder aufs Festland noch in die Türkei.

«Vor dem EU-Türkei-Deal strandeten manchmal innert kurzer Zeit 1000 Leute, die dann aber weiterreisten. Wir sahen sie meistens nur einen Tag lang. Jetzt sitzen 2500 Leute fest.»

Was bedeutet das für die Arbeit von Baas?

Es sind nicht mehr Flüchtlinge auf Chios als früher, doch die Fluktuation ist eine andere. Früher strandeten manchmal innerhalb von kurzer Zeit etwa tausend Leute, die dann aber weiterreisten. Wir sahen sie meistens nur einen Tag lang. Jetzt sitzen 2500 Leute fest. Darum haben wir umgestellt: Kennenlernen ist wichtig, die Frustration unter den Kindern und Jugendlichen wächst. Deshalb müssen wir ihnen einen Platz geben.

Daher auch der Wechsel von der spontanen Hilfe für Gestrandete hin zu längerfristigen Projekten wie Schule und Jugendtreffs…

Ja, unsere Arbeit hat sich verändert. Früher zogen wir Leute aus dem Wasser und bekochten sie – da konnten auch Freiwillige einfach mal für zwei Wochen helfen. Nun aber suchen wir Langzeitvolontäre. Mindestens einen Monat sollten sie schon bleiben – das ist wichtig für die Beziehungsarbeit mit den Jugendlichen.

Im Internet liest man aggressive, rassistische Voten gegen Flüchtlinge, die Helfer werden als «Gutmenschen» verhöhnt. Erleben Sie solche Anfeindungen?

Die bekomme ich, doch in einem sehr kleinen Rahmen. Allerdings provoziere ich auch gerne.

Wie denn?

Zum Beispiel im Juli auf Facebook, als es von Einträgen über «Pokémon Go», gefolgt von «Pray for Nizza» nur so wimmelte, da fragte ich mich schon, wo manche Leute den Schwerpunkt setzen: Sie sind über das Weltgeschehen erzürnt, töten das aber gleich ab, indem sie sich im Internet kurz dazu äussern. Dabei habe ich nicht etwa die Erwartung, dass nun jeder seinen Job kündigt und Flüchtlingshelfer wird – es gibt Tausende andere Möglichkeiten, wie man zum gesellschaftlichen Wandel beitragen kann.

Ein Blick in die Zukunft: Wird es auf Chios noch lange Leute wie Sie brauchen?

Ich habe das Gefühl, dass die Krise noch länger dauern wird als bis Ende Jahr. Die Asylverfahren laufen schleppend. Es fragt sich auch, wie lange die Balkanroute noch geschlossen bleibt. Fast gar nicht thematisiert wird zudem die viel längere und gefährlichere Route vom Libanon nach Italien. Ein ganz grosses Fragezeichen ist auch das Pulverfass Türkei.

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