Es ist unmöglich, in Schweden ein Gespräch über Fussball zu führen, ohne dass der Name Zlatan Ibrahimovic fällt. Fast täglich ist der berühmteste Schwede in den Medien seiner Heimat präsent, obwohl der 36-Jährige mittlerweile in Los Angeles in der amerikanischen Rentnerliga kickt und vor zwei Jahren aus der Nationalmannschaft zurückgetreten ist.
Derzeit tourt «Ibra» für einen Sponsor durch Russland, verschenkt Zlatan-Spielzeugfiguren und gibt Interviews. Ein Instagram-Post von Ibrahimovic schaffte es auch am Montag gross in die Medien – nicht nur in die schwedischen. Nachdem der Wechsel des amerikanischen Basketball-Superstars LeBron James zu den Los Angeles Lakers bekannt wurde, schrieb Ibrahimovic: «Jetzt hat LA einen Gott und einen König! Zlatan begrüsst @KingJames.»
Ibrahimovic ist zwar noch immer der einzige Weltstar des schwedischen Fussballs. Aber auch ohne ihren langjährigen «Gott» versetzt die schwedische Fussball-Nationalmannschaft gerade das ganze Land in Euphorie.
Vor dem WM-Achtelfinale in St. Petersburg glauben die Schweden an ihre Mannschaft. Und das vor allem deshalb, weil «Gott» Ibrahimovic nicht dabei ist. Im Frühjahr kokettierte der noch mit einer Rückkehr ins blau-gelbe Trikot und sagte in einer amerikanischen Late-Night-Show: «Eine WM ohne mich wäre keine WM.»
65 Prozent der Schweden begrüssen Ibrahimovics Abwesenheit
Doch der neue Kapitän Andreas Granqvist und Trainer Janne Andersson wiesen «Ibra» höflich zurecht. Und bei einer Umfrage fanden es 65 Prozent der Schweden besser, die WM ohne Zlatan zu spielen. Mit Ibrahimovic verpassten die Blau-Gelben die letzten beiden Weltmeisterschaften – dieses nicht unwichtige Detail der schwedischen Fussballgeschichte ignoriert Ibrahimovic in seinen Einlassungen aber souverän.
Die Frage, warum die Nummer 24 der Fifa-Weltrangliste ohne den besten Fussballer ihrer Geschichte nun erfolgreicher ist, beschäftigt die schwedische Öffentlichkeit seit dem Achtelfinaleinzug stark. Diese auf den ersten Blick gewöhnliche Auswahl hat es geschafft, Aussergewöhnliches zu leisten. Zwei Protagonisten stehen bei der Suche nach Gründen für den Erfolg im Mittelpunkt der Betrachtung: Trainer Janne Andersson und Kapitän Andreas Granqvist.
Respekt vor dem Gegner und Teamgeist lauten die Grundprinzipien, die der 55 Jahre alte Andersson auf seine Mannschaften überträgt. So führte er vor drei Jahren völlig überraschend den IFK Norrköping zur schwedischen Meisterschaft und empfahl sich damit für den ersten Trainerposten im Land.
Nach dem Rücktritt Ibrahimovics – nach dem Vorrunden-Aus bei der EM 2016 in Frankreich – formte Andersson mit diesen Tugenden eine Mannschaft, die ihre Grenzen seither kontinuierlich nach oben schiebt. Schon in der Qualifikation zur WM liessen die Skandinavier die Holländer hinter sich – und in den Play-offs prallte Italien am Abwehrbollwerk der Schweden ab.
Im Vordergrund steht das Team, nicht ein Star
Diese Elf wächst an ihren Aufgaben und ist in der Lage, Rückschläge wegzustecken. An der glücklosen 1:2-Niederlage in letzter Sekunde gegen Deutschland im zweiten WM-Gruppenspiel ist sie nicht zerbrochen – ganz im Gegenteil. Sie schwang sich beim finalen 3:0 gegen Mexiko zu ihrer besten Leistung seit Jahren auf und schloss die Gruppe als Tabellenerster ab.
Ibrahimovic hatte vor dem Mexiko-Spiel noch geraunt, mit ihm würde die Mannschaft besser spielen bei diesem Turnier. Doch übel nimmt ihm das im Mannschaftskreis niemand, kein Spieler verliert ein böses Wort über den jahrelangen Anführer. Stürmer Markus Berg sagte nach den letzten Wortmeldungen Ibrahimovics: «Ach, Zlatan ist doch ein lieber Kerl.»
Die schwedische Torwartlegende Ronnie Hellström, in den 1970er-Jahren zweimal Schwedens Fussballer des Jahres, sagt: «Das Spiel der Schweden ist nach dem Rücktritt von Ibrahimovic nicht mehr auf eine Person zugeschnitten. Die Mannschaftsleistung steht im Vordergrund, man ist wieder zu den Wurzeln zurückgekehrt.» Für Mittelfeldspieler Emil Forsberg von RB Leipzig ist das nur logisch. Er sagt: «Wenn du Weltklasse verlierst, kannst du das nur über die Mannschaftsleistung ausgleichen.»
Die Stockholmer Zeitung «Aftonbladet» schrieb einmal, diese Mannschaft komme mit ihrem ganzen Talent «nicht einmal an die Schienbeinschoner» von Ibrahimovics Können heran. Ohne dessen überbordendes Talent und Ego spielt sie nun aber erfolgreicher.
Markus Berg, der mittlerweile in den Arabischen Emiraten kickt, bildet mit dem in der vergangenen Saison beim FC Toulouse ohne Ligator gebliebenen Ola Toivonen das Angriffsduo. Er sagt: «Es ist ein anderes Spiel ohne Zlatan. Wir übernehmen nun alle Verantwortung in der Defensive.»
Das heisst übersetzt: Früher rannten alle für Zlatan, heute rennt jeder für jeden. Vergessen sind die Vor-WM-Debatten um fehlende Kreativität im Team. Ronnie Hellström teilt aus seiner Heimat mit: «Der Optimismus im Land ist jetzt riesig.» Genau wie das Selbstvertrauen der schwedischen Fussballer.
Und das ist auch ein Verdienst von Andreas Granqvist. Der Abwehrspieler und Kapitän ist ein Anti-Zlatan – bodenständig und bescheiden. Der 33-Jährige, den sie wegen seiner Körpergrösse von 1,92 Meter Granen (Fichte) nennen, ist die neue Identifikationsfigur für die Fans.
Der Captain könnte am Spieltag zum zweiten Mal Vater werden
In den letzten Tagen bemühen schwedische Medien Intellektuelle aus allen Bereichen, um den Erfolg der Fussballer zu erklären. Psychologe Magnus Lindwall meint: Im Gegensatz zu Ibrahimovic könne Granqvist andere mit seiner Einstellung mitreissen, anstatt sie passiv zu machen, bis sie nur noch warten, dass jemand den Job machen werde. Granqvist könne seine Haupteigenschaften viel besser auf das Team übertragen als Zlatan, dessen einzigartige Fähigkeiten nicht auf eine Gruppe übertragbar seien.
Und der Philosoph Tore Brännberg glaubt: «Mit Zlatan wäre es nicht gegangen, Granqvist ist mythologisch das Gegenteil.» Nun fiebert die ganze Nation vor dem Schweiz-Spiel mit ihrem Helden, der in einem Gewissenskonflikt steckt: Granqvists Frau steht kurz vor der Niederkunft. Der Geburtstermin des zweiten gemeinsamen Kindes ist der Tag des Spiels gegen die Schweiz. Granqvist hat die Erlaubnis seiner Frau, das Spiel seines Lebens zu spielen und bei der Mannschaft in Russland zu bleiben.
Die schwedischen Politiker wollen jetzt doch zur WM fahren
Derweil kündigte die schwedische Aussenministerin Margot Wallström an, dass Regierungsvertreter zum Achtelfinale nach Russland reisen würden. Bislang schloss sich die schwedische Politik dem WM-Boykott englischer Politiker wegen des Falls Skripal an. Mit dem Erfolg der Fussballer und nach Rücksprache mit den Verbündeten sei das aber nun hinfällig, zumal man immer nur von einem Boykott der Eröffnungsfeier gesprochen habe, sagte Wallström. Jetzt sei es wichtig, «diese fantastische Mannschaft» vor Ort zu unterstützen.
Diese fühlt sich in der Rolle des Aussenseiters gegen die Schweiz total wohl. Nur zwölf Spieler setzte Trainer Andersson bisher in der Startelf ein. Und dennoch ist der ausgeprägte Teamgeist die grosse Stärke dieser Auswahl. Ersatzstürmer John Guidetti, bislang nur zwölf Minuten bei dieser WM im Einsatz, sagt: «Wir sind ernsthafte Underdogs und das ist es, was wir gerne sind.»
Mit dieser Einstellung sind sie bisher weit gekommen. Die schwedischen Fussballer haben sich von ihrem «Gott» Zlatan Ibrahimovic emanzipiert. Wer sie unterschätzt, macht einen Fehler. In Holland, Italien und Deutschland weiss man, was das bedeutet.
Leistungsdaten von Schwedens Kader bei der WM in Russland