Die Homo-Gaststube, die zum Dragqueen-Palast aufstieg und verschwand

Das «Elle & Lui» hat Ende November seine Tore endgültig geschlossen. Schwulenaktivist Peter Thommen schaut zurück.

Wegen solcher Travestie-Shows war das «Elle & Lui» in den 1990er-Jahren immer wieder sehr gut besucht.

1972 war das Geburtsjahr der Bar Elle & Lui. Gegründet wurde sie von Theresa Ollari (1919–2003) im ehemaligen Restaurant Apollo an der Rebgasse 39. Theresa hatte vorher in drei anderen Bars und in der Casita-Bar, neben dem «Bierkäller» (später «Città 2000»), bedient. Gegen Widerstand aus Wirtekreisen machte sie dann als erste Frau ihr Patent.

Sie bewirtete während mehr als 30 Jahren Homos und Lesben in Basel: «Ich liebte sie alle, ob jung oder alt.» Sie hatte immer auch homosexuelle Kundschaft gehabt und wurde bald als Mutterfigur wahrgenommen. Die Gäste folgten ihr in jedes Lokal, wo sie arbeitete. In der grösser werdenden Stadt und aus dem Umland rings um Basel hatte sie entsprechend mehr und mehr Kunden und auch Kundinnen.

Sie gründete die Bar «Elle & Lui»: Theresa Ollari.

Basel war seit Jahrzehnten tolerant gegenüber den Männern – und für die Frauen interessierte sich keiner. Homosexuelle Handlungen waren seit 1942 ab 20 Jahre für beide Geschlechter nicht mehr strafbar. 

«Homo-Lokale» durften an allen hohen Feiertagen offen haben, damit die «Warmen» nicht alleine blieben.

Die Polizei war froh, dass sich ein Teil der (männlichen) «homosexuellen Umtriebe» in der Stadt in private Sphären verlagerte. «Homo-Lokale» waren unter der Woche und besonders samstags gut besucht. Sie durften auch an allen hohen Feiertagen offen haben, damit die «Warmen» nicht alleine blieben.

Theresa gab die Bar 1977 an den Schwulen Johnny (H. Wüst, 1948–1981) ab, der von der «Fregatte» (Greifengasse) kam. Das «Elle», wie es liebevoll genannt wurde, wurde zu einer beliebten Kontaktbar auch für schwule Touristen. Es lag nahe der Mustermesse und den Hotels mit den internationalen Gästen. 

Die Basler waren damals führend in der Schwulenbewegung und zogen Publikum aus den anderen Städten, bis Mulhouse und Freiburg, an. Der FCB hat sein Stadion, wo er Leidenschaften pflegt. Schwule und Lesben hatten ihr Lokal, wo sie ohne Diskriminierung ihre Gefühle zeigen konnten.

Für jede Stunde eine Musikband

Nachdem Johnny 1981 plötzlich aus dem Leben schied, übernahmen nach und nach eine handvoll Pächter das «Elle». Michel Schwarz (1951–1995) hatte meist für jede Stunde ein Musikband vorbereitet. Ich erinnere mich an illustre Gäste wie Miss Marlboro (1948–1993), Sissy von Possenhofen, René den Bänkler mit dem dicken Portemonnaie, den Kussräuber und viele andere, die die «schwule Familie» belebt haben. 

Paul Imhof schilderte das 1987 eindrücklich in der damaligen «Weltwoche»:

«Mit der Öffnung des homosexuellen Lebens nach aussen, mit dem ‹coming out› so manches eingeschüchterten Jungmannes gewann der Homosexuelle Selbstvertrauen. Die neue Toleranz holte den Schwulen aus den Milieu-Löchern, andererseits verlor das Milieu seine Familiarität.»

«Das Licht ist gedämpft, die Atmosphäre schummrig. Rote Lämpchen lassen auch den dicksten Pickel verschwinden. Die Kellner sind vorzugsweise schlank und agil und, solange kein Rekrutierungsproblem herrscht, mit einem scharfen Maul ausgestattet. Die Basler Schwulenbars sind zwar selten leer, doch meistens schwebt ein Hauch von Langeweile mit im rauchigen Nebel.»

Beat M. kam 1994 aus Luzern nach Basel und prägte das «Elle» für längere Zeit. Das Lokal wurde umgebaut. Die Arkaden fielen. Es wurde wieder etwas heller gestrichen und erhielt eine richtige Belüftung.

Auch die Queen residierte auf einem Hocker, mit Tasche, Zigarette und ihrem Bier. Es gab Gäste, die kamen erst mal direkt nach der Arbeit, um sich von den Heteros zu erholen, und dann später nochmals – den ganzen Abend lang bis zur Polizeistunde! Das Personal war froh, wenn es anschliessend noch in ein normales Lokal mit verlängerter Öffnungszeit gehen konnte, um sich seinerseits von den Schwulen und Lesben zu erholen.

https://tageswoche.ch/gesellschaft/die-schwulenszene-ist-tot/

Die Sommerflauten wurden mit «travestialen Darbietungen» überbrückt. Das Personal und zugewandte Gäste dachten sich Geschichten und Episoden aus, die geprobt und dann auf provisorischer Bühne dem Publikum zur Unterhaltung vorgeführt wurden. Im Senfwochenblatt druckte ich Fotos zur Erinnerung.

Sommernachtsfest und Fummelball

Einmal im Jahr herrsche Gleichheit unter den Schwulen und Lesben im «Elle&Lui»: Am Sommernachtsfest flossen Getränke und Schweissperlen beim Personal wie bei den Gästen. Während übers Jahr das Personal arbeitete und die Gäste zahlten, war am Fummelball die Situation gerade umgekehrt: Das Personal zahlte mit einem Auftritt und die Gäste belohnten mit Beifall. Diese zweite, private Fasnacht im Kleinbasel war ein grosser Erfolg. Das Höfli wurde hergerichtet für Grilliertes. Sissy legte für ihr reifes Show-Alter immerhin einen «gmiatlich-bayrischen Lederhosen-Strip» hin. Schwestern und echte Frauen wedeltn mit ihren Fächern um die Wette.

Im September 2015 hatte das traditionsreiche Lokal wohl seinen «schwulen Schnauf» ausgehaucht.

Fasnacht war immer Hohezeit in den Schwulen-Lokalen. Mancher, der sonst Abstand hielt, konnte unter einer Maske ungeschoren hineingehen und sich das ansehen, was er sonst scheute. Das kam dann auch Bis und Heteros zugute. Das «Elle» ist immer in eine Art Höhle umgestaltet worden, jedenfalls herrschte eine ganz andere als die sonstige Atmosphäre. Guggen hielten da auch gerne ein Ständchen. Betrieb war bis in die Morgenfrühe, was Auswärtigen recht war. Vor dem Morgestraich kamen auch viele Freunde und Bekannte, um sich die Zeit bis vier Uhr zu vertreiben.

«L 39» war am Ende der neue Name des früheren «Elle & Lui».

Wanddurchbruch für «L39»

Im Frühling 2012 zog sich Beat in Pension zurück und unter neuem Pächter wurde das «Elle & Lui» wieder umgestaltet, der Eingang in die Fassade verlegt, eine lange Bar auf der linken Seite bis zur Kellertreppe erstellt. Die alte Wand verschwand und hinter ihr wurde durchgebrochen und erweitert bis ans Ende des Grundstücks. Die neuen Rauchervorschriften verlangten nach einem Fümoir. Im Dezember wurde unter neuem Pächter und neuem Logo das «L39» eröffnet.

Philippe E. hatte die Geschäftsführung übernommen. Er hatte ein Händchen für Kostüme und trat als Helene Fischer auf. Die neue Bar-Lounge war jetzt auch meist von aussen einsehbar, doch das gefiel nicht allen. Die Raucher waren unzufrieden mit einem Séparée. Kunden blieben aus, trotz Anstrengung der Betreiber. Philipp erkrankte und hatte danach gesundheitliche Probleme.

Kurzfristig wurde die Schliessung angekündigt

Neues Personal brachte keine Wende. Im September 2015 hatte das traditionsreiche Lokal wohl seinen «schwulen Schnauf» ausgehaucht. Die Köpfe drehten sich nicht mehr zu den neu Eintretenden. Die Gästen schauten stattdessen auf iPhones und Kontakt-Applikationen. Hie und da nur trafen sich Freunde, und Frauen waren spärlich zu sehen.

Einige Dragqueen-Shows in diesem letzten Jahr konnten das Wochenende noch etwas beleben. Kurzfristig wurde dann am 30. November die Schliessung angekündigt. Anderntags war das Traditionslokal schon zu.

Im Herbst hatten sich immerhin um die 30 Personen eingefunden, um zu diskutieren, wie es mit der Szene und öffentlichen schwul-lesbischen Veranstaltungen in Basel weitergehen solle. Um die 20 Leute aus allen Geschlechtern, Orientierungen und Vereinen wollen das nun in die Hand nehmen, um im Jahr 2020 Basel zu zeigen, was wir können und dass wir aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken sind.

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