Es kommt einem so vor, als ob Basel das kulturelle Angebot einer Zehnmillionenstadt hätte. Dieser Satz stammt von Josef Helfenstein, Direktor des Kunstmuseums Basel, und er bezieht sich auf den «einzigartigen Reichtum an Museen und Ausstellungen», den diese Kleinstadt doch eigentlich hat. Was Helfenstein im Interview mit der TagesWoche ausserdem sagte, lässt aufhorchen: Dieser Reichtum sei «eine Herausforderung und langfristig vielleicht auch ein Problem».
Wächst dem Kanton sein eigenes Engagement in Kultur also über den Kopf? Lässt die Stadtverwaltung zu viele Fördergelder fliessen? Oder verteilt sie diese ausgewogen und richtig? Darüber sprechen wir mit Katrin Grögel und Sonja Kuhn, den beiden Leiterinnen der Abteilung Kultur im Basler Präsidialdepartement.
Katrin Grögel, Sonja Kuhn, man könnte diese Aussage von Josef Helfenstein folgendermassen weiterdenken: Was, wenn der Zeitgeist ändert, das Interesse der Mäzene erlischt oder sie schlicht sterben? Dann muss der Kanton die volle Verantwortung und Kosten übernehmen.
Sonja Kuhn: Da muss ich etwas ausholen. Basel hat eine lange Sammeltradition. Dadurch haben wir ein überdurchschnittliches kulturelles Erbe und auch gleich fünf staatliche Museen. Diese historisch gewachsenen Institutionen haben den gesetzlich verankerten Auftrag: sammeln, bewahren, forschen, vermitteln. Wir erachten das als wichtig für Bevölkerung und Staat. Aus diesem Grund finanziert der Kanton auch den Betrieb dieser fünf Museen, während Private und Sponsoren Ausstellungen und Schwerpunkte unterstützen. Für den Grundbetrieb, das heisst für Unterhalt und Verwaltung, finden die Museen keine privaten Gelder. Die Finanzierung vom Staat und die Unterstützung von Privaten ergänzen sich.
Betrachtet man die Budgets der genannten Museen und die gestiegenen Kulturausgaben der letzten Jahre, kommt man zum Schluss: Wer hat, dem wird gegeben – selbst wenn Eintrittszahlen gefälscht wurden und Budgets unrealistisch kalkuliert waren. Der Beitrag ans Kunstmuseum wurde darum soeben um zwei Millionen Franken erhöht. Können die Direktoren machen, was sie wollen?
Kuhn: Nein, selbstverständlich nicht! Darum lassen wir die Museen nun von externen Organisationen durchleuchten. Wir wollen den Betrieb der Museen optimieren und auch überprüfen, ob sie die notwendige Mittelausstattung haben.
«Wir wollen nicht, dass man nur einen, und vor allem den eigenen Topf sieht.»
Die von Kulturstadt Jetzt lancierte «Trinkgeldinitiative» fordert derzeit fünf Prozent des Kulturbudgets für Jugendkultur. Haben Sie dafür Verständnis?
Kuhn: Mit einem Schmunzeln mussten wir eingestehen: Wir hätten auch gerne fix fünf, lieber noch sechs Prozent des Gesamthaushaltes für Kultur. Das Total der Kulturausgaben liegt seit vielen Jahren konstant bei weniger als fünf Prozent des kantonalen Budgets.
Wie hoch ist es denn jetzt?
Katrin Grögel: Im Jahr 2018 sind wir bei 4,8 Prozent.
Kuhn: Die «Trinkgeldinitiative» ist ein wichtiger Impuls, weil sie aus einer Bewegung oder Szene kommt, wo wir merken: Aha, da passiert was, das ist spannend. Die Initianten haben den Eindruck, es werde zu wenig für junge Kultur und für neue Formen der Kultur gemacht. Aber junge Kultur ist ja nicht nur, was aus der Jugendkulturpauschale gefördert wird. Das ist zu eng gedacht. Auch Institutionen wie das Junge Theater oder die Jugendprojekte des Theaters Basel sollte man hier mitbedenken.
Grögel: Und wenn man die Frage von neuen Kulturformaten anschaut, dann sollte man auch das Haus der elektronischen Künste beachten. Es nimmt neue Technologien, Medienkunst und die Veränderung unseres Alltags durch den digitalen Wandel in den Fokus. Es gibt keine andere Institution, die so viele Jugendliche anzieht, die freiwillig ins Museum gehen – ohne Eltern, ohne Zwang.
Vielleicht will die Jugend selber definieren, was ihre Kultur ist?
Kuhn: Klar, das verstehe ich. Wir wollen auch nicht definieren, was Jugendkultur ist. Ich will eher zeigen, dass es auch zwischen Jugend- und den anderen Kultursparten Schnittmengen gibt. Da kann sich die Jugend anlehnen und fordern. Nochmals: Wir wollen einfach nicht, dass man nur einen, und vor allem den eigenen Topf sieht.
«Grundsätzlich darf man eine Kulturstadt nicht in Tortenstücken denken. Es geht um ein ganzes Ökosystem.»
Grögel: Es wäre innerhalb der Sparten auch schwierig, wie man den Jugendkultur-Anteil definiert und von der Nachwuchsförderung abgrenzt. Beispiel Film: Was macht ein Projekt zur Jugendkultur und das andere eben nicht? Ist es das Alter der Beteiligten? Das Thema? Die vielleicht experimentelle Art der Herangehensweise?
Lassen wir doch die Jugendkulturpauschale mal beiseite. Was halten Sie von der Initiative?
Grögel: So wie der Initiativtext formuliert ist, haben wir den Eindruck, die «Trinkgeldinitiative» zielt eher auf eine klare Abgrenzung von einem bildungsbürgerlichen Kulturbegriff ab als auf Jugendkultur im engeren Sinne. Die Amerikaner würden es als «high brow» versus «low brow» definieren, also E- gegen Populär-Kultur. Wir finden das heute keine sinnvolle Unterscheidung mehr, um über die Zukunft des Kulturschaffens und der Kulturstadt Basel nachzudenken. Grundsätzlich darf man eine Kulturstadt nicht in Tortenstücken denken. Es geht um ein ganzes Ökosystem.
Kuhn: Das ist uns beiden übergeordnet wichtig. In dem Moment, wo einzelne Kunst- und Kultursparten gegeneinander arbeiten und sich gegenseitig ausspielen, verlieren alle. Wir sind der festen Überzeugung, dass es da szenenübergreifend Solidarität braucht. Falls eine Budgeterhöhung das Ziel ist, erreicht man das nur, wenn alle Akteure mitziehen. Fängt man an, Populär- gegen Hochkultur auszuspielen, haben alle verloren.
«Die bildungsbürgerliche Institution ist in der Auflösung, es gibt sie eigentlich schon heute so nicht mehr.»
In Zürich fordern Filmschaffende und Game-Entwickler aktuell eine Verdoppelung ihrer Förderung – auch auf Kosten anderer Sparten. Und Berthold Seliger schreibt im Buch «Klassikkampf» von der teuren Förderung der Hochkultur als ungerechte Verteilung von Steuergeldern von unten nach oben, als Klassenkampf der Eliten. Wäre es nicht an der Zeit, die Diskussion anzuschieben, um die Feinabstimmung zwischen verschiedenen Sparten zu verbessern?
Kuhn: Das ändert eine verstärkte Jugendkulturförderung kaum. Auch bei der Jugend sind es dann die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten vom Bruderholz, die in Bands spielen.
Grögel: Die Frage ist, ob man die Institutionen und die Wichtigkeit des kulturellen Erbes in Frage stellt oder ob man an der Öffnung der Institutionen hin zu einem zukunftsgerichteten Kulturbegriff und anderen Publika arbeitet. Wir vertreten klar das Zweite als Zielsetzung.
Und was ist der Weg?
Kuhn: Da will ich auf die Zugänglichkeit verweisen. Da ist die letzten Jahre sehr viel passiert. Neben unglaublich tollen Vermittlungsangeboten ist es beeindruckend, wie viele Schulklassen die letzten Jahre Museen und das Theater besuchten: Über 6000 Schulklassen haben 2017 die Basler Museen besucht. Die Häuser übernehmen einen entscheidenden Bildungsauftrag, den sonst niemand wahrnimmt. Unser Wunsch ist, dass Barrieren in den Köpfen überwunden werden.
In der Hoffnung, dass alle Bildungsbürger werden im traditionell humanistischen Sinn Basels?
Kuhn: Die bildungsbürgerliche Institution ist in der Auflösung, es gibt sie eigentlich schon heute so nicht mehr. Den Anspruch, neue Publikumsschichten anzusprechen, stellen wir an alle Institutionen. Das machen sie auch sehr intensiv über diverse Vermittlungsangebote.
Vermittlung ist ein Begriff, der die letzten Jahre in Konzepten und Budgets auftauchte, aber nicht wirklich greifbar ist. Können Sie da ein paar konkrete Beispiele nennen?
Kuhn: Etwa, wenn das Sinfonieorchester nach Kleinhüningen fährt, um dort in den Schulzimmern gemeinsam mit den Kindern zu musizieren. Da lernen und erfahren alle Beteiligten etwas. Für Menschen in prekären Lebenssituationen haben wir dank der Kultur Community immer wieder kulturelle Angebote. Dafür bekommen wir sehr bewegende Rückmeldungen. Wir wollen, dass Menschen eine Bereicherung erfahren, die sich das sonst nicht leisten können oder keinen Zugang dazu haben. Dafür engagieren sich auch die Institutionen stark.
«Das Schöne in Basel ist, dass Kultur ernst genommen und diskutiert wird, bis die Gemüter erhitzt sind.»
Man könnte – kulturpolitisch ketzerisch – weiter kritisieren: Das dient doch mehr der Gewissensberuhigung der gut verdienenden Bildungsbürger, die weiter regelmässig in den Genuss des hoch subventionierten Angebots kommen, während es für Minderbemittelte ein einmaliges Erlebnis bleibt. Sind diese Aktionen nicht ein Tropfen auf den heissen Stein?
Grögel: Nein. Ganz klar nein. Wir stecken wirklich in einem Transformationsprozess bezüglich des Kulturbegriffs. Aber es geht auch darum, wie sich die Institutionen gesellschaftlich neu verankern wollen und müssen. Das ist den Leuten dort sehr bewusst. Um in einer Kulturstadt die Relevanz zu behalten, müssen sie die Zugänglichkeit für breite Gesellschaftsschichten erhöhen. Einige machen das bereits hervorragend, aber gesamthaft gesehen gibt es da noch Luft nach oben.
In dieser Hinsicht schimpfte sich die Kulturkommission sehr selbstkritisch schon im Leitbild von 2012 undemokratisch.
Grögel: Der Prozess ist im Gang. Soziale Transformationen dieser Grössenordnung finden, genauso wie das Lernen im Umgang mit der Digitalisierung, nicht von heute auf morgen statt. Das ist langfristig anzugehen und sehr komplex. Also eher: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Der Wert einer attraktiven Kulturszene als Argument, gute Steuerzahler in die Stadt zu locken, dürfte heute von kaum einer politischen Mehrheit bestritten werden.
Grögel: Das Schöne in Basel-Stadt ist, dass Kultur hier wirklich ernst genommen und diskutiert wird, bis die Gemüter erhitzt sind und man sich streitet. So entsteht ein lebendiger Austausch und die Kultur bleibt relevant. Basel geniesst einen hervorragenden Ruf als Kulturstadt, nicht nur, aber auch aufgrund von einzelnen Institutionen wie Kunstmuseum, Fondation Beyler, Theater Basel, Festivals oder Orchestern. Aber wir wünschen uns eine noch breitere Verankerung in der Gesellschaft. Das gilt es zu pflegen und in die Zukunft zu tragen, damit die Attraktivität Basels erhalten bleibt.
Was wären denn fünf Basler Beispiele aus den letzten zwei Jahren, die weltweit für Furore gesorgt haben?
Grögel: Die Oscar-Nomination für den von Giacun Caduff produzierten Kurzfilm «La femme et le TGV». Abgesehen von Arthur Cohn ein ziemliches Novum für die Stadt. Gerade aktuell wurde das Theater Basel als «Theater des Jahres 2018» ausgezeichnet.
Kuhn: Die Theaster-Gates-Ausstellung im Kunstmuseum hat wieder international Massstäbe gesetzt und wurde in Europa und bis hin zur «New York Times» breit besprochen. Dann war das Naturhistorische Museum in eine internationale Forschungsarbeit involviert, wo Spinneneier in Wespen gefunden wurden. Auch das hat international grosse Wellen geschlagen.
(längeres Überlegen)
Einer ist noch offen. Soll ich den fünften Platz füllen?
Beide: Ja, gerne.
Dass Zeal & Ardor vom unbekannten Internet-Phänomen zum begehrtesten Bühnen-Newcomer Europas wurde und ganzseitige Feuilletonbeiträge in allen wichtigen Gazetten um den Globus bekommt.
Beide: Ja.
Nutzen Sie auch solche Beispiele, um bei der Politik Druck für neue Mittel zu machen?
Grögel: Im Gesamtpaket sicher. Zu einer Szene gehört aber auch Kontinuität, nicht nur ein einmaliger Senkrechtstart. Ein solcher Erfolg lässt sich ja kaum nochmals wiederholen. Wir sind daran interessiert, Künstlerkarrieren nachhaltig zu fördern und nicht nur den Start.
«Unsere Stadt soll Erbe und Tradition kennen, bewahren und vermitteln. Aber unbedingt zukunftsgerichtet und innovativ.»
Doch so wirklich nahe scheint Ihnen die populäre Musik nicht. In der Kultur-Chronik Ihres Jahresberichtes 2017 ist der Gewinner des Basler Pop-Preises nicht vertreten.
(emsiges Blättern)
Kuhn (bestürzt): Ist das wirklich wahr!
Grögel: Da arbeiten Sie nun an unserer Wahrnehmung. Das ist total gut.
Sie haben ja nun die Möglichkeit das neue Kulturleitbild zu entwickeln. Welche Grundpfeiler wollen Sie setzen?
Grögel: Wir sind überzeugt, dass unsere Stadt ihr Erbe und ihre Tradition kennen, bewahren und vermitteln soll. Aber das soll sie unbedingt zukunftsgerichtet tun und innovativ. Gleichzeitig ist es für die Lebendigkeit einer Kulturstadt grundlegend, dass hier Leute arbeiten, vor Ort produzieren, und dass dies für die Bevölkerung sichtbar wird. Zugleich ist es wichtig, dass die Qualität des Basler Kunst- und Kulturschaffens auch eine Ausstrahlung ausserhalb der Region entwickelt.
Kuhn: An der Öffnung der Institutionen werden wir hartnäckig dranbleiben, bis alle merken: Die Institutionen sind für alle da. Bei der Museumsnacht funktioniert das bereits hervorragend. Da kommt ein sehr diverses Publikum. Da gehen die Leute hin, ohne sich zu überlegen, «oh ein Museum». Den lebendigen Spirit braucht es von allen Seiten.
Grögel: Dabei geht es auch um die Frage, wie man mit einer interkulturellen Gesellschaft umgeht. Wie man alle in ein gemeinschaftliches Leben einbindet. Kultur kann Begegnungen anstiften, sie trägt bei zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, ebenso wie andere Aktivitäten, beispielsweise Sport.
Kuhn: Und die Digitalisierung in Umgang und Anwendung. Das ist ein grosses Feld, wo wir besser werden müssen. Das bietet ja grosse Chancen für die angesprochene Niederschwelligkeit und Zugänglichkeit.
Grögel: Der RFV Basel hat das Thema Chancengleichheit kürzlich gemeinsam mit der Koordinationsstelle «Helvetiarockt» in einer Vorstudie für die Populärmusik eruiert. Es gibt auch andere Sparten, wo es ein ähnliches Ungleichgewicht zwischen der Wahrnehmung und den Berufschancen der Geschlechter gibt. Das Thema ist dringend und aktuell.
Kuhn: Gleiche und faire Bedingungen fordern wir auch bei den Löhnen. Ein Richtlohn ist enorm wichtig für die soziale Gerechtigkeit. Gerade in Kunst und Kultur leben viele im Prekariat.
Sprechen Sie da von Betrieben wie dem Theater Basel, wo die Lohndifferenz zwischen Künstlern riesig ist? Etwa zwischen Orchester und Tanzensemble, wo die Angestellten ihren Körper für einen sehr tiefen Lohn schinden.
Grögel: Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können sich bei der Prüfung von Gesuchen an den Richtlöhnen von Gewerkschaften und Verbänden orientieren. Für eine Erhöhung dieser Richtlöhne müssen die Interessens- und Berufsverbände kämpfen.
Wird im neuen Kulturleitbild weiterhin zwischen Hoch- und Populärkultur unterschieden und die Förderung von Volkstümlichem wie der Fasnacht ausgeschlossen?
Kuhn: Was mir aus diesem Interview als schaler Beigeschmack bleibt, ist das Denken in Hochkultur und Populärkultur. Wir brauchen doch beides in der Stadt! Wenn ich mit jungen Leuten spreche, denken die zum Glück viel weniger in Boxen. Sie sagen, dass sie die Hochkultur brauchen, damit sich die Populärkultur weiterentwickeln kann und umgekehrt. Das muss im Fluss sein. Da hoffen wir auch, dass sich das gegenseitig befruchtet. Unsere Stadt braucht Kooperationen. Da kann man einhaken und ganz viel erreichen. Zum Glück gibt es viele, die das auch sehen und wollen. Diesen Weg sehen wir für die Zukunft.