«Ist es in Ordnung, wenn ich während des Gesprächs einen Kaffee trinke?», fragt Peter*, bevor wir uns setzen. Seine Frage richtet er an Ausbildungsleiter Oskar Paul Schneider. «Verrückt, nicht? Welcher normale Lernende würde so eine Frage schon stellen?», sagt Schneider. Er gehört zur Direktion und scheint für die Bewohner Boss und Papi gleichzeitig zu sein.
Peter ist kein «normaler Lernender». Wir befinden uns im Arxhof, einem offenen Massnahmenzentrum für junge Erwachsene in Niederdorf in Baselland. Es ist ein Ort, der auch als Wellness-Center durchgehen könnte: Der Hof liegt eingebettet in wattige Felder, rundherum saftiggrüne Bäume, auf dem Platz zwischen den Pavillons, in denen die Bewohner arbeiten und wohnen, liegt ein Schwimmteich, ein Naturpool mit Einstiegstreppchen. «Man könnte hier baden, aber das tut eigentlich niemand. Die Jungs sind ein bisschen heikel, die Pflanzen und die Tierchen im Wasser stören sie», sagt Schneider lachend.
Aktuell leben 34 junge Männer zwischen 17 und 28 Jahren auf dem Arxhof, Platz haben 46. Sie alle haben eines gemeinsam: In der Vergangenheit waren sie wiederholt straffällig geworden. Weil sie noch jung sind, kamen sie um eine Gefängnisstrafe herum, indem sie in den Arxhof eintraten. Ein Wunschkonzert ist das aber nicht: Wer hier hin will, muss sich in einem Aufnahmegespräch beweisen, Drogenabhängige müssen den Entzug bereits hinter sich haben. Wer suizidal gefährdet ist oder mit Psychosen zu kämpfen hat, wird nicht aufgenommen.
Je jünger jemand bei der ersten Straftat ist, desto höher ist später das Rückfallrisiko. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik. In manchen Ländern werden 95 Prozent der Insassen von Jugendgefängnissen rückfällig.
Weder Mauern noch Zäune
Im Arxhof absolvieren die Eingewiesenen eine drei- bis vierjährige Berufsausbildung. Zur Auswahl stehen acht verschiedene Bereiche: Forst, Gartenbau, Malerbetrieb, Metallbau, Schreinerei, technischer Dienst, Verwaltung und die Küche, wo Peter arbeitet. Der 28-jährige Berner ist ein sympathischer junger Mann. Er drückt sich gewählt aus, hat eine warme Ausstrahlung und Manieren, die man eher von einem Angestellten in der Brasserie Les Trois Rois in Basel erwartet.
Jeden Morgen um 6.45 Uhr beginnt für ihn und alle anderen hier im Arxhof der Alltag: Frühstück und Bereitmachen für den Arbeitstag, der eine halbe Stunde später beginnt. Das Mittagessen wird zusammen eingenommen. Der Arbeitstag endet um 16 Uhr, «wenn wir Gruppensitzungen haben», sonst um 17 Uhr. In der Gruppensitzung sprechen die Bewohner etwa darüber, dass einer der Bewohner einen Fluchtversuch unternommen hat – und danach in den Arxhof zurückgekehrt ist.
«Das kommt vor», sagt Schneider. «Wenn jemand gehen will, kann er das. Wir sind eine offene Einrichtung. Wer flüchtet und das Gebiet des Arxhofs verlässt, den schreiben wir bei der Polizei zur Fahndung aus. Es gab auch schon Fälle, in denen geflüchtete Bewohner direkt aufs Revier gingen und sich stellten, um im Untersuchungsgefängnis ein Time-out anzutreten.»
«Ich konnte mich gut eingewöhnen hier, habe mich aber auch auf den Aufenthalt vorbereitet.» – Peter, seit 2014 im Arxhof
Peter will nicht flüchten. Ihm gefällt die Arbeit auf dem Arxhof und er steht kurz vor seinem Lehrabschluss, im Mai beginnen die Abschlussprüfungen. Er war auch schon im Gefängnis und sieht das Massnahmenzentrum als letzte Chance.
Sein Lebenslauf gleicht einer holprigen Landstrasse: Als Peter zehn Jahre alt ist, trennen sich seine Eltern. Der Vater ist ein Mann, der Struktur liebt und nach dem Motto «Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen» lebt. Peter wächst aber bei seiner Mutter in Bern auf, die ihn als 13-Jährigen bis morgens um vier durch die Stadt ziehen lässt und ihm nur wenig Grenzen setzt. Kiffen gehört zum Ausgang dazu, Alkohol ebenfalls.
Mit 16 beginnt Peter eine Lehre als Koch, die er allerdings nicht beendet. Über das Delikt, für das er angeklagt wurde, will Peter nicht en détail sprechen. Er sagt nur: «Konsum von Gras und tätliche Angriffe.» 2013 wurde er dafür zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt – oder wahlweise den Eintritt in den Arxhof. Zusammen mit seinem Anwalt entschied sich Peter gegen einen Aufenthalt im Gefängnis und für das Massnahmenzentrum.
Seit 2014 ist Peter nun hier. Abgeliefert hat ihn der Vater, an einem Herbsttag im Oktober, das Aufnahmeverfahren war dem damals 25-Jährigen bereits aus seiner Zeit im Gefängnis bekannt: «ID abgeben und so weiter, das kannte ich ja schon. Ich konnte mich gut eingewöhnen hier, habe mich aber auch auf den Aufenthalt vorbereitet.»
Rückfall im Ausgang
Die Beziehung zu seiner Freundin hat Peter vor dem Eintritt in den Arxhof beendet und dann im Ausgang «nochmals richtig Gas gegeben». Wenn Peter heute mit den Jungs in seinem Wohnpavillon bestimmte Lieder hört oder über Erfahrungen in der Vergangenheit spricht, fühlt er sich manchmal getriggert. Vor einigen Wochen hatte er einen Rückfall: «Ich habe in Bern im Ausgang über die Stränge geschlagen», sagt er mit schuldbewusstem Blick.
Unbegleiteter Ausgang ist den Eingewiesenen erst gestattet, wenn sie das sogenannte Sozialtraining erfolgreich absolviert haben. Zu diesem Training gehören unter anderem Ausflüge in Begleitung eines Pädagogen, später auch zusammen mit Arxhof-Kollegen, die bereits die Erlaubnis für unbegleiteten Ausgang haben. Eine Garantie, dass ein Ausflug auf eigene Verantwortung danach reibungslos abläuft, bietet aber auch das nicht.
So war Peter im unbegleiteten Ausgang unterwegs, in einem Laden lächelte ihn ein «Bärner Müntschi» aus dem Regal an, «dann hatte ich plötzlich ein Bier nach dem anderen». Er traf auf Freunde von früher, ein Joint wurde gebaut, «Peter, bist du dabei?» – «Ja, eh!»
«Hier müssen die Männer an sich arbeiten, sie kommen nicht darum herum.» – Oskar Paul Schneider, Ausbildungsleiter
Nach Jahren der Abstinenz fahren Bier und Gras noch stärker ein. Da packt ein Fremder Peter an der Schulter und blafft ihn an. Gerangel, geballte Fäuste. «Meine Schwester war dabei und hat meinen Cousin angerufen, der ihr geholfen hat, mich zur Ruhe zu bringen. Er hat mich dann zum Arxhof zurückgefahren.»
Statt zur Urinkontrolle gings direkt in den Wohnpavillon, «ich habe geschlafen wie ein Baby». Die Entscheidung, in den Arxhof zurückzukehren, fiel Peter leicht. Er kennt aber auch junge Männer, die sich lieber einsperren lassen: «Sie sehen das Gefängnis als bessere Alternative, man hat dort seine Ruhe und muss einfach Zeit absitzen.»
Auf dem Arxhof läuft es anders, erklärt Oskar Paul Schneider: «Hier müssen die jungen Männer an sich selbst arbeiten, sie kommen gar nicht darum herum. Das macht natürlich etwas mit einem, das ist anstrengend und kann schmerzhaft sein.»
Rückkehr an den Tatort
Der Arxhof ist keine heile Welt. Auch hier gibt es Probleme. Im April berichteten Medien über eine Kündigungswelle und Vorwürfe von ehemaligen Angestellten gegen die Direktion. Die härtesten Konflikte tragen dort aber die eingewiesenen jungen Männer mit sich selber aus. Neben der Berufsausbildung machen die Eingewiesenen auch eine delikt- und risikoorientierte Psychotherapie. Das bedeutet, sich aktiv mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen, den Schauplatz ihrer Straftat nochmals aufzusuchen. Der Fokus ist stark auf die Persönlichkeitsentwicklung gerichtet.
Auch bei Ausbildungsleiter Schneider hinterlässt die Arbeit auf dem Arxhof Spuren. Die Arbeit mit den jungen Männern fordert und verändert, auch die Mitarbeitenden seien gefordert, an sich und ihrer Persönlichkeit zu arbeiten. «Unsere Eigenreflexion ist Basis des Wirkens. Es ist wichtig, die eigenen Verhaltensmuster zu kennen, um das Eigene vom Gegenüber unterscheiden zu können», sagt er.
Die Hälfte schafft den Lehrabschluss
Werden Bewohner des Arxhofs erfolgreicher resozialisiert als Menschen, die stattdessen eine Gefängnisstrafe absolvieren? «Was heisst erfolgreich?», fragt Schneider zurück. «Für die einen ist es ein Erfolg, wenn sie nie mehr gewalttätig werden. Das können wir nicht garantieren. Ein anderer findet es super, nicht mehr zu trinken und so Risikosituationen einschränken zu können. Sicher ist: Jeder nimmt von seiner Zeit hier etwas mit.»
Im Gefängnis dagegen sitze man den ganzen Tag in seiner Zelle, könne vielleicht eine Stunde raus, und müsse sich nicht wirklich mit seiner Persönlichkeit auseinandersetzen. «Welcher Weg führt wohl eher zu positiven Veränderungen?»
Die rhetorische Frage bleibt im Raum stehen. Genaue Zahlen zur Rückfallquote kann auch Arxhof-Direktor Peter Ulrich nicht nennen: «Nach Massnahmenabschluss haben wir keinen Zugang zu den weiteren Verläufen.» Was er aber sagen kann: Die Hälfte der Eingewiesenen schafft im Arxhof einen erfolgreichen Berufsabschluss und einen regulären Abschluss der Massnahme. Das heisst: Jeder zweite junge Mann, der in den Arxhof eingewiesen wird, verlässt den Arxhof als freier Mensch mit einem Beruf und einer Perspektive.
«Ich bin schon unsicher, wenn ich daran denke, was mich draussen erwartet», sagt Peter.
Für Peter ist es Zeit, zurück in die Küche zu gehen. Das Mittagessen muss zubereitet werden. Bald schon wird er in die Aussenwohngruppe eintreten. Das ist die letzte Station der Bewohner des Arxhofs: eine Wohnung, die sie zusammen mit anderen Eingewiesenen belegen, und in der die jungen Männer ihren Alltag komplett selber strukturieren müssen.
«Ich bin schon unsicher, wenn ich daran denke, was mich draussen erwartet», sagt Peter, die Hände gefaltet auf dem Tisch. «Ich habe noch immer meine Baustellen, aber klare Ziele vor Augen. Ich frage mich, ob ich meinen Tagesablauf nach meinem Aufenthalt hier ausreichend selbst gestalten kann.» Und auch das Thema Drogenkonsum macht ihm noch Sorgen. Generell sei er aber zuversichtlich: «Ich merke die persönlichen Veränderungen sehr stark, ich kann zum Beispiel viel besser mit Krisensituationen umgehen.»
* Name von der Redaktion geändert