40 Jahre Junges Theater: «Zum Glück wollen nicht alle Schauspieler werden»

Es gibt junge Leute, die finden Theater das Letzte. Dann treffen sie auf Uwe Heinrich. «Wir müssen an die Wirklichkeit der Jugendlichen andocken», weiss der Leiter des Jungen Theaters Basel. 

Uwe Heinrich, der Leiter des Jungen Theaters Basel, muss auch mal Reifen fürs Bühnenbild putzen. (Bild: Suna Gürler)

Uwe Heinrich, das Junge Theater Basel feiert seinen 40. Geburtstag. Ein beachtliches Alter.

Für eine Institution, die sich Junges Theater nennt, allerdings. Aber die Aktiven hier sind ja nach wie vor jung. Dieser 40. Geburtstag zeigt, dass die Idee gut ist. Und dass viele Menschen diese Idee mit unglaublich viel Energie und Engagement immer wieder von Neuem füllen und weiterziehen. Die Institution zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie ein Sprungbrett ist.

Sie sprechen von einer guten Idee. Wie würden Sie diese umschreiben?

Die Idee ist, dass man Jugendlichen, die ins Theater kommen, etwas bietet, das ihnen in diesem Moment etwas sagt, etwas, was mit ihrem Leben und ihrer Sprache zu tun hat, und man sie nicht in erster Linie im bildungsbürgerlichen Sinn als Publikum von morgen anzusprechen versucht. Vielleicht entstehen so Träger eines kulturellen Erbes. Aber unsere Philosophie ist die Direktheit im Ausdruck.

Mit Direktheit meinen Sie, dass hier Jugendliche für Jugendliche spielen.

Das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, als beim Jungen Theater Basel nur Profis spielten – sogar literarisches Theater. Heute spielen nur Jugendliche. Die Literatur, sofern es sie überhaupt gibt, steht eher im Hintergrund. Es ist verdammt schwierig, brisante Theatertexte zu finden, für Jugendliche geschrieben – und erst noch in der richtigen Sprache.

Uwe Heinrich (*1965 in Dresden) leitet seit 2000 das Junge Theater Basel. Der Theaterpädagoge ist ausserdem Produktions-Dramaturg und Kursleiter am Haus. 2008 wurde er mit dem Kulturpreis des Kantons Basel-Stadt geehrt.

Was bringt es den Jugendlichen, im Jungen Theater zu spielen?

Was man öffentlich wahrnimmt, ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt aber auch den unsichtbaren Eisblock unter der Oberfläche: die Theaterkurse, an denen jeder und jede teilnehmen und während zwei Stunden pro Woche herausfinden kann, was das Spielen und das Arbeiten in der Gruppe für sie bedeutet. Das ist das Fundament, auf dem dieses Haus steht. Man lernt tolle junge Menschen kennen und Themen, die sie beschäftigen. Ich kann mit einem Stück kommen und einfach mal ausprobieren, ob die Kursteilnehmer darauf ansprechen, und dann abschätzen, ob es sich lohnt, das zu einer Produktion weiterzuentwickeln. Ohne diese breite Basis – pro Jahr besuchen über 50 Jugendliche die Kurse – könnten wir dieses Haus inhaltlich und personell nicht so führen, wie ich das gerne tue.

Können die Kursteilnehmer auftreten?

Das Resultat wird gezeigt. Aber nicht vor der grossen Öffentlichkeit, sondern in einem geschützteren Rahmen in drei Vorstellungen. Gewisse Kursteilnehmer fragen wir danach, ob sie in einer der Produktionen mitwirken möchten. Und dann folgt die Arbeit mit professionellen Regisseuren, die wie Sebastian Nübling, Suna Gürler oder der Choreograf Ives Thuwis-De Leeuw auch an professionellen Bühnen erfolgreich arbeiten.

«Für Autoren, mit denen wir direkt zusammenarbeiten, kann es ganz schön schwierig sein.»

Warum gibt es so wenig Theaterstoff für Jugendliche?

Vielleicht gibt es keinen wirklichen Markt dafür. Es ist auch sehr schwer für einen Erwachsenen, den richtigen Duktus für Jugendliche zu finden. Die meisten Jugendstücke sind für professionelle Schauspieler geschrieben, die anders mit Sprache umgehen können, denen aber die Direktheit und Glaubwürdigkeit fehlt. Unseren Spielern sprechen die Zuschauer jedoch per se eine Glaubwürdigkeit zu. Diese würde untergraben, wenn sie einen Text sprechen müssten, der nicht der ihre ist.

Was heisst das für die Autoren?

Für Autoren, mit denen wir direkt zusammenarbeiten, kann es auch ganz schön schwierig sein, wenn sie merken, dass ihre Texte nicht oberste Priorität geniessen. Wichtiger ist: Was können unsere Spieler? Was bewältigen sie? Was nehmen wir ihnen ab? Sie haben ja das professionelle Werkzeug nicht oder noch nicht.

Themen und Texte müssen sich also den Spielern unterordnen.

Die Texte werden ganz brutal angepasst. Erst einmal werden sie übersetzt ins Schweizerdeutsche, was ich als Deutscher übrigens liebe und was mir extrem fehlen würde, würde ich dieselbe Arbeit in Deutschland machen. So ein wunderbarer Prozess! Man sitzt zusammen am Tisch und überprüft jedes Wort, jedes Komma, jede Sequenz und Aussage. Zusammen mit allen Spielern, denn jeder hat seinen eigenen Dialekt, seine eigene Ausdrucksweise. Ich bin schon so lange hier, dass ich auch die soziokulturellen Unterschiede in Basel wahrnehme. Ich höre, ob jemand aus dem Kleinbasel oder aus dem Gellert kommt. Das ist eine tolle Potenz für die Bühne.

«Ich würde mich freuen, wenn mehr Kursteilnehmer aus dem Kleinbasel kämen.»

Wer ist stärker vertreten? Kleinbasler oder Jugendliche aus dem Gellert?

Sehr viele vom Bruderholz. Ich würde mich freuen, wenn mehr Kursteilnehmer aus dem Kleinbasel kämen.

Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund?

Ja natürlich. Alle sind absolut willkommen. Aber da müssen wir noch Hürden überwinden. Nicht alle Gesellschaftsgruppen halten Theater für gleich relevant.

Obwohl Sie Themen aufnehmen, die Jugendliche aus nicht bildungsbürgerlich geprägten Haushalten genauso ansprechen?

Nun, im Publikum haben wir die Leute, die sich das Theater überall und immer schon gewünscht hat, nämlich den Bevölkerungsdurchschnitt. Dies, weil wir von Schulklassen besucht werden. Da sind viele dabei, die denken, Theater sei das Letzte. Aber dann kommen sie raus und haben vielleicht das Gefühl: war schon noch okay. Das ist vielleicht das grösste Lob, das wir bekommen können.

«Die Schüler wissen von nichts, und plötzlich steigen drei Mädchen auf die Pulte und sprechen über Sexualität.»

Sie holen die Schulen nicht nur zu sich, Sie gehen auch in die Schulen. Was ist das Besondere an diesen Ausflügen?

Ich mag diese Aktionen sehr. Sie sind gerade deshalb spannend, weil wir quasi feindliches Territorium betreten: Die Schülerinnen und Schüler müssen akzeptieren, dass ihr Klassenzimmer für 45 Minuten plötzlich nicht mehr das ihre ist. Wir treten überfallartig auf. Die Schüler wissen von nichts, besprechen mit ihrem Lehrer vielleicht Goethes «Werther», und plötzlich treten drei Mädchen auf, steigen auf die Pulte und sprechen über weibliche Sexualität. Grossartig!

Mutige Spielerinnen!

Sie müssen sehr davon überzeugt sein, was sie tun. Und es muss sehr gut inszeniert sein. Das ist uns extrem gut gelungen. Unser erstes Stück «Der zwölfte Mann ist eine Frau» war über Frauen im Fussballstadion – kein unheikles Thema. Jetzt geht es um Hate-Mails. Alle diese Stücke sind sehr nahe an der Realität und aus Interviews heraus entstanden. Entsprechend gross die Glaubhaftigkeit.

Wie sehr haben sich die Themen in den 40 Jahren geändert?

Gar nicht so sehr, auch wenn man sie heute manchmal anders nennt als vor 40 Jahren. Das Gender-Thema etwa. Das hiess damals noch nicht so, war aber ebenso relevant wie heute. Eher neu ist das Thema Qual der Wahl, das in den 1970ern noch nicht so brennend wahrgenommen wurde wie heute. Früher war man womöglich noch politischer. Wir haben aber auch Themen im Programm, die durchaus politisch und von der Aktualität geprägt sind. «Zucken» zum Beispiel zeigt Wege in die Radikalisierung.

Ein Bild aus der Gründungszeit «Kasch mi gärn ha!» (1977) mit Meret Barz und Dani Levy – jawohl der Dani Levy, der heute zur ersten Garde der deutschen Filmemacher zählt.

1977 wurde mit «Kasch mi gärn ha» ein Sexual-Aufklärungsstück gespielt. Wäre so etwas heute noch denkbar?
Es wurde in der 1990ern ja neu inszeniert. Ich werde noch immer auf das Stück angesprochen, weil es so erfolgreich war. Aber das kann man heute nicht mehr so bringen. Man müsste ein neues Stück kreieren, vom Allgemeinen mehr ins Detail gehen. Sexualität wird heute differenzierter behandelt. Das binäre Geschlechtermodell wird schwer befragt. Homosexualität war damals eine kleine Facette des Stücks. Heute gibt es weit mehr Möglichkeiten – und von daher mehr Gesprächsbedarf.

Was sind denn die brennenden Themen von heute?

Da gibt es viele. Letztlich geht es doch immer um Identitätssuche. Im übernächsten Stück, einer Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich, wird es um gerechte und ungerechte Mode gehen. Es heisst «Sweatshop». Da könnte man eine hoch moralisierende Geschichte konstruieren. Wir wissen ja alle, wie die Näherinnen in Fernost ausgebeutet werden, damit wir billige Kleider kaufen können. Wie setzen wir das jetzt um? Schliesslich kamen wir auf den individuellen Ansatz zurück, auf unsere Verdrängungsmechanismen. Wir verdrängen beim Kauf billiger Kleider, welche Folgen das hat.

«Wir behandeln die Jugendlichen in den Produktionen wie Professionelle.»

Eine Besonderheit des Jungen Theaters Basel ist, dass hier renommierte Regisseure und junge Laien zusammenarbeiten.

Wir behandeln die Jugendlichen in den Produktionen wie Professionelle. Sie haben über mehrere Wochen jeden Tag Proben. Wir nehmen sie also sehr ernst. Arbeit mit Jugendlichen – wir machen nichts anderes. Für andere Häuser ist das ein Produkt von vielen.

Sie haben mit Sebastian Nübling einen Hausregisseur, der seit Jahren stilprägend ist. Schränkt das nicht auch ein?

Ich mag den Stil von Sebastian. Diese direkte, körperorientierte und dynamische Ausdrucksweise funktioniert sehr gut, um gesellschaftliche Inhalte zu transportieren.

Und das strahlt auch über die Grenzen Basels hinaus.

Das ist natürlich ganz toll. Wir werden zu Gastspielen und Festivals eingeladen, an Orte und Spielstätten, wo diese Regisseure sonst arbeiten. Oder wir suchen selber nach Koproduktionen mit Häusern, die mehr Platz bieten als unsere kleine Bühne von neun auf neun Meter. Wir spielen auf sehr verschiedenen Bühnen. Wenn wir zum Beispiel in Baden im Casinotheater vor 400 aufgedrehten Jugendlichen auftreten müssen, dann bekommt man ein Gefühl wie in einem Fussballstadion.

«Bei unserer Arbeit ist das gemeinsame Mittagessen ganz wichtig.»

Werden Sie in Basel ebenso positiv wahrgenommen? Es heisst ja, dass der Prophet im eigenen Lande nichts wert sei.

Wir werden hier schon gut wahrgenommen, vor allem von den Schulen. Aber nun gehen Lehrerinnen und Lehrer, die eine tiefe Verbundenheit mit dem Haus aufgebaut haben, in Pension. Diese enge Verbindung, diesen sicheren Zuspruch, kriegt man heute nicht mehr so leicht hin. Lehrer haben es heute schwerer, aus dem Schulalltag auszubrechen. Sie stehen unter einem höheren Rechenschaftsdruck.

Zurück zum Spiel: Die körperbetonte und dynamische Ausdrucksweise, die Sie pflegen, dient die auch dazu, gewisse Mankos, die Laien auf der Bühne nun mal haben, zu überdecken?

Das kann man so sagen. Unsere Spielerinnen und Spieler können etwas ganz toll, andere Sachen überhaupt nicht. Es funktioniert dann gut, wenn es gelingt, an die Wirklichkeit der Jugendlichen anzudocken und aus dieser Wirklichkeit möglichst viel herauszuholen. Darum ist bei unserer Arbeit, so seltsam dies klingen mag, das gemeinsame Mittagessen ganz wichtig. Für die Kontaktaufnahme zueinander. Wenn wir aus solchen Situationen Momente herauskristallisieren können, dann erreichen wir viel.

«Zucken» von Sasha Marianna Salzmann: Sebastian Nübling inszeniert Power-Theater.

Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Beim Projekt «Zucken» gelangte etwas direkt vom Mittagstisch auf die Bühne. Als wir uns für dieses Stück von Sasha Marianna Salzmann entschieden hatten, lag die Idee nahe, aus dem Smartphone heraus etwas über die Radikalisierung von Jugendlichen zu erzählen. Da war es natürlich sehr dienlich zu sehen, wie die Jugendlichen mit ihren Smartphones umgehen, um daraus Bühnenvorgänge ableiten zu können.

Wollen eigentlich alle, die es von den Kursen in eine Produktion schaffen, danach Schauspieler werden?

Zum Glück nicht. Es sind aber noch immer zu viele.

Zu viele?

Die jungen Menschen setzen sich einer scharfen Konkurrenzsituation aus, in der sie ständig bewertet werden. Das beginnt bei der langen Reise von Schauspielschule zu Schauspielschule, bis sie irgendwo aufgenommen werden, um dann nach dem Bachelor- oder Masterabschluss wieder vorsprechen müssen, damit sie eine Bühne annimmt. Ich verstehe, dass man spielen möchte. Das ist hier bei uns aber ganz anders als an einer professionellen Bühne. Der Schauspielerberuf ist keine Lebensform, die jeden glücklich macht.

Reden Sie den Jugendlichen den Schritt in die professionelle Schauspielerei aus?

Ich rede niemandem etwas aus, aber ich weise deutlich auf die brutale Realität des professionellen Bühnenalltags hin. Wenn jemand trotzdem weitermacht, umso besser. Dann hat er zumindest mal einen Entscheid gegen eine Autorität hinter sich.

Es gibt ehemalige Spieler des Jungen Theaters Basel, die diesen Sprung geschafft haben und auf der Bühne oder im Filmgeschäft brillieren. Stolz?

Aber natürlich. Und ich freue mich darauf, viele von ihnen am Geburtstagsfest am Samstag zu sehen, die Geschichte des Jungen Theaters leibhaftig vor mir zu haben und nicht nur in Archivschachteln. Die Jugendlichen von heute werden auf Ehemalige wie Ueli Jäggi oder Dani Levy treffen, die einst wie sie hier am Haus waren und zu Grössen in der Theater- und Filmlandschaft geworden sind.

40 Jahre Junges Theater Basel. Fest am Samstag, 14. Oktober, im Jungen Theater Basel mit der  Vernissage des Jubiläumsbuchs «Forever Young» von Alfred Schlienger (Christoph Merian Verlag) um 17.30 Uhr. In den Tagen darauf werden zwei Wiederaufführungen von zwei Produktionen zum Thema Gender zu sehen sein.

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