Die Macht der Nische: Der neue Basler Pop

Für den 9. Basler Pop-Preis sind fast nur Acts aus musikalischen Nischen nominiert. Egal, wer diesmal gewinnt: Die Basler Wahl hat mehr internationale Strahlkraft als die Swiss Music Awards.

Schammasch sind nur eingefleischten Düster-Metallern ein Begriff, sind aber schon zum zweiten Mal für den Pop-Preis nominiert. (Bild: Ester Segarra)

Kaum waren die Nominierten bekannt, erklärte ein Facebook-Kommentar die Pop-Preis-Wahl 2017 schon für entschieden: «Mega spannend dieses Jahr :-). Könnt die beiden Preise eigentlich jetzt schon in die Off Bar stellen?»
Die Off Bar ist das zweite Wohnzimmer von «Zeal & Ardor»-Mastermind Manuel Gagneux. Im Keller schreibt er auch seine Songs. Der Mix aus den Field Songs afroamerikanischer Sklaven und Black Metal wurde via Internet erst von US-Medien gepriesen und dann zu einem Phänomen, wie es die Schweizer Musikszene noch nicht erlebt hatte.

Noch vor dem ersten Konzert rissen sich Festivals, Feuilletons und Fans um die neu formierte Band und die BBC One lud die sechs Basler zu einer Studio-Session nach London. Unterdessen haben Zeal & Ardor an die 50 Konzerte in Europa und auch Amerika gespielt. Bei allem Respekt für die anderen Nominierten. Da kommt 2017 keiner mit.

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Wertet die Pop-Preis-Jury den Kriterienkatalog analog zu den letzten Jahren, als das Momentum einer nominierten Band stets über das langjährige Schaffen gestellt wurde, sind Zeal & Ardor die klaren Favoriten. Mobilisieren sie ihre Fans, wird ihnen auch die Publikumswahl kaum zu nehmen sein. Bei Facebook haben die Steilstarter bereits fast doppelt so viele Follower wie We Invented Paris, die mit etwas über 13’000 auf dem zweiten Platz folgen.

Die Liestaler Formation um Flavian Graber ist bereits zum dritten Mal für den Pop-Preis nominiert und hat 2012 den Publikumspreis gewonnen. Dennoch ist die Band mit ihrem eingängigen Indie-Pop der Exot unter den fünf Nominierten. Es ist der einzige Act, der auch im Tagesprogramm der Schweizer Radios gespielt wird.

Die vier anderen Nominierten spielen Nischenmusik. Neben Zeal & Ardor ist mit Schammasch eine weitere Band mit Wurzeln im Black Metal dabei. Dazu kommen mit Audio Dope und Alma Negra zwei Acts aus dem elektronischen Kosmos, die eher in Clubs denn auf Konzertbühnen anzutreffen sind und mit ihrer Produktionsweise auch nicht dem traditionellen Bandkonzept entsprechen.

Lovebugs: Aushängeschild mit schlechtem Timing

Das macht die diesjährige Nominiertenliste spannender als die der letzten acht Jahre. Der Pop-Preis 2017 zeigt, dass Basel längst mehr als nur eine Hochburg für Mainstream-tauglichen Poprock mit einem Hauch Indie ist. Dieses Klischee klebte lange an jeder Band aus der Region, und nein: Die Lovebugs waren nicht die Begründer dieses Rufes. Vor ihnen gab es schon Bands wie Dominique & The Wondertoys.

Doch mit ihrem Erfolg wurden die Lovebugs zum Aushängeschild und damit zum Prototyp, mit dem Bands aus der Region in der Rest-Schweiz verglichen wurden. Über die Grenzen wollte der Erfolg allerdings nie wachsen. Zu dicht besetzt ist der internationale Markt für Mainstream-Bands.

Ausserdem entdeckten die Lovebugs ihre internationalen Ambitionen zur falschen Zeit – nämlich während der Krise der etablierten Plattenlabels, ausgelöst durch die neuen Herausforderungen des Internets. Die Major Labels verkleinerten ihre ohnehin schon unbedeuteten Schweizer Ableger. Investitionen für den Aufbau einer internationalen Karriere waren kein Thema mehr.

Die 10. Ausgabe der Swiss Music Awards war ein peinliches Zelebrieren eines Réduit-Denkens in der Pop-Kultur.

Im Gegenteil: Verunsichert suchten die auf Verkaufszahlen fixierten Schweizer Major-Manager ihre Rettung im musikalisch grössten gemeinsamen Nenner, um doch noch Rendite aus dem viel beklagten kleinen Binnenmarkt zu quetschen. Schweizer Musik wurde zum Synonym für gefälligen Konsens-Pop. Unter Originalität verstanden die kommerziell denkenden Firmen und Produzenten das Besingen helvetischer Alpenromantik. Das können ausländische Bands nicht besser machen. Der Markt ist sicher – aber beschränkt, in mancher Hinsicht.

Das Resultat dieser Inzestpolitik? Dies sind die Gewinner der vom Business geprägten 10. Swiss Music Awards 2017 (SMA) – des grössten Schweizer Musikpreises: Beatrice Egli (Best Female Solo Act), Trauffer (Best Male Solo Act & Best Album), Schluneggers Heimweh (Best Group & Best Breaking Act), Hecht (Best Live Act), Nemo (Best Talent), Dabu Fantastic (Best Hit).

Im Gegensatz zu den wohl aus Gründen der Coolness Englisch gehaltenen Award-Titel singen die Ausgezeichneten allesamt Mundart oder Hochdeutsch (Egli).  Robert Kelly (Best Act Romandie), Seven (Artist Award) und natürlich die Gewinner in den internationalen Kategorien bilden die Ausnahmen.

Die 10. Ausgabe der Swiss Music Awards im Hallenstadion war ein pompös inszeniertes, peinliches Zelebrieren eines Réduit-Denkens in der Pop-Kultur. Nur dank der Präsenz von Egli und Seven in Deutschland und Gigs wie Nemos Auftritt am Sziget Festival in Budapest haben die SMA-Gewinner Auslandkonzerte vorzuweisen – allerdings auch in der Summe immer noch weniger als die meisten der Basler Pop-Preis-Kandidaten für sich allein.

Nur wer eigenständig und mit hoher Qualität musiziert, kann international relevant werden.

Ohne in die am Rheinknie gern gepflegte Selbstgefälligkeit zu verfallen: Man darf behaupten, die hier Nominierten haben mehr internationale Relevanz. Die ist auch ein wichtiger Punkt im Kriterienkatalog des Pop-Preises und macht die weiter geforderte Eigenständigkeit und hohe künstlerische Qualität fast schon obsolet. Denn die bilden die Grundlage, um international Gehör zu finden.

Das sollte man in der Schweiz eigentlich wissen: In den bewegten 80er-Jahren haben Schweizer Pioniere wie The Young Gods (Industrial), Celtic Frost (Black Metal) oder Yello (Electro) international Musikgenres definiert oder zumindest stark inspiriert.

Dass sich vier der Nominierten heuer genau im Stil-Dreieck Metal-Industrial-Electro bewegen, ist ein Zufall. Ebenso, dass dieses Jahr weder eine Frau noch ein Hip-Hopper nominiert wurden. Doch ist es kein Zufall, sondern Ausdruck des Zeitgeists, dass erstmals auch zwei elektronische Acts und mehr Nischenmusik für den Pop-Preis Beachtung finden. Okay, Das Pferd war zwar zweimal nominiert – ist aber eigentlich mehr Party-Band mit Keyboard denn ein Club-Act.

Über Genregrenzen hinaus

Die Clubszene und der Pop-Preis-Ausrichter RFV Basel waren sich bisher beidseitig fremd. Für die gegenseitige Wahrnehmung brauchte es wohl einen Katalysator, in diesem Fall die Basler Musik Management Agentur Radicalis, die als professionell agierendes Unternehmen über Genregrenzen hinaus versucht, Potenzial zu erkennen, das international funktionieren könnte. Nebst ihrem Zugpferd Zeal & Ardor gehören auch Produzenten-Talente wie Audio Dope oder Newcomer Zøla sowie andere Basler und internationale Bands zu ihren Künstlern.

Nach der diesjährigen Fusion mit Reel Music wurde Radicalis zu einer der grössten Schweizer Musik-Management-Agenturen. In Basel ist sie klar der Platzhirsch, doch nicht allein. In den letzten Jahren entstand hier eine vielfältige Szene von Agenturen und Labels, die vor allem auf Nischenmusik setzen, und es werden immer mehr.

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Der Szene-Unterbau mag nicht so begeistern wie die Musik ihrer Protagonisten. Doch diese Agenturen und Labels sind enorm wichtig, damit die ganze Musikszene wachsen und von einem allfälligen Grosserfolg einer Basler Band profitieren kann.

Das Beispiel Belgien

Belgien, klein und mehrsprachig wie die Schweiz, hat im Vergleich ein Vielfaches an international bekannten und tourenden Bands: Triggerfinger, Hooverphonic, Stromae, Oscar and the Wolf und viele andere mehr. Als Grundstein dafür gilt der Erfolg von dEUS Anfang der 90er-Jahre. Um die Band wuchsen Labels, Booking- und Management-Agenturen. Es entstanden Arbeitsplätze für Licht- und Ton-Techniker. Die Szene schuf sich selbst professionelle Strukturen – und die Welt wollte mehr und mehr aus dem Land hören.

2017 könnte als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem sich Basel der Brit-Pop-Klischees entledigte.

Besonders ermutigend dabei: Die meisten belgischen Bands haben irgendeinen verrückten Twist drin, «einen an der Waffel», wie Millionaire-Gitarrist Tim Vanhamel mit landestypischem Humor meinte, in dem man am lautesten über sich selber lacht. Auch die Dewaele-Brüder (2ManyDJs und Soulwax), Ghinzu oder Danny Mommens, Gitarrist von dEUS und Gründer von Vive La Fête nannten Verrücktheit als Grundstein des Erfolgs belgischer Bands. Unisono hörte man in Interviews: Wer aus einem kleinen Land kommt ohne grossen Markt, muss etwas wagen, um Gehör zu finden. Man hat ja nichts zu verlieren!

Von einem Star profitieren alle

Zurück an den Rhein: Verlieren kann bei einer weiteren Professionalisierung und einer verstärkt internationalen Ausrichtung des Pop-Preises der Dialekt-Hip-Hop. Den Protagonisten bleibt eigentlich nur die Chance auf den Publikumspreis (Brandhärd 2010 und 2015, Black Tiger 2013). Doch sitzen die Rapper dabei auf einem Dampfer mit Szene-Urgesteinen wie den Lovebugs (2009) und The Lombego Surfers (2016). Ist der Pop-Preis eher als Förderpreis einer internationalen Karriere gedacht, ist das Ablaufdatum dafür irgendwann schlicht überschritten. Darum führte der RFV Basel vor vier Jahren auch einen Anerkennungspreis ein.

Sollte dieses Jahr Zeal & Ardor tatsächlich den Pop-Preis bekommen und sich gemäss den Erwartungen von «Noisey», «Rolling Stone USA» oder Szene-Ikonen wie Tom Morello und Slash zu einer Band von Weltformat entwickeln, dann profitiert die ganze Basler Szene.

Vielleicht wird der Abend der Pop-Preis-Verleihung nicht unbedingt spannend. Doch könnte 2017 als das Jahr in die Musikgeschichte Basels eingehen, in dem sich die Szene des Brit-Pop-Klischees entledigte. Selbst wenn Basel nicht gleich das neue Seattle wird, von wo Bands wie Mudhoney, Pearl Jam oder Soundgarden im Fahrwasser von Nirvana um die Welt zogen – die lokale und nationale Szene profitiert immer von einem internationalen Star, sofern um diesen eine professionelle Infrastruktur entsteht. Im Gegensatz zur Schweiz der 80er-Jahre ist das heute in Basel der Fall.

Der Pop-Preis 2017 wird am Mittwoch 8. November im Atlantis Basel verliehen.

TagesWoche-Redaktor Olivier Joliat ist Schlagzeuger bei den Lombego Surfers, die letztes Jahr den Publikumspreis erhalten haben.

Dossier Der neue Basler Pop

Brit-Pop für die Provinz war gestern. Heutzutage feiern Basler Bands aus Nischen internationale Erfolge.

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