Die Fotosession am Ende des Interviews zieht sich hin. Der Fotograf drängt auf ein Lächeln, doch Esteban Piñeiro bleibt hart. Freundlich drein schauen fände er jetzt ganz unpassend: Es ist ein ernstes Thema, das er und sein Professorenkollege Carlo Knöpfel im TagesWoche-Gespräch erörtern. Zu Lachen gibts nichts, wenn es um die Basler Wohnpolitik geht.
Piñeiro ist einer der aufregendsten Sozialforscher in der Region. An der Fachhochschule Nordwestschweiz forscht und lehrt er im Themenfeld Wohnen und soziale Konflikte. Für die TagesWoche hat er bereits die Geschichte des Autonomen Jugendzentrums (AJZ) aufgeschrieben und die Fäden von damals ins Jetzt gezogen.
Sein Gefährte im Gespräch ist der Basler Ökonom Carlo Knöpfel, der seit Jahren zu den wichtigsten sozialkritischen Stimmen der Schweiz zählt. Knöpfel ist Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Nordwestschweiz. In einer aktuellen Studie beleuchtet er die Probleme von Armutsbetroffenen, eine bezahlbare Wohnung zu finden.
Herr Knöpfel, Herr Piñeiro, die Basler Bevölkerung ist unzufrieden mit der Basler Wohnpolitik. Sie hat vier Initiativen angenommen, welche stärkere Eingriffe des Staates in den Wohnungsmarkt fordern. Woher kommt diese Unzufriedenheit?
Esteban Piñeiro: Die Kräfteverhältnisse im Wohnungsmarkt sind nicht im Gleichgewicht. Es gibt die Logik der Investoren, es gibt den Wunsch der Stadt nach einer attraktiven Positionierung im Vergleich mit anderen Standorten, es gibt die ökologische Frage und halt auch die soziale Dimension. Gerade die sozialen Aspekte sind zu kurz gekommen. Die Mehrheit der Leute ist offenbar der Ansicht, dass es so nicht weitergehen kann, dass die strukturellen Benachteiligungen ein Problem darstellen.
Carlo Knöpfel: Für mich haben die Abstimmungen ein solidarisches Resultat hervorgebracht. Viele Probleme auf dem Wohnungsmarkt betreffen ja ausländische Bürger ohne Stimmrecht. Wer ein «ic» im Namen trägt, hat ein grundsätzliches Problem, eine passende Wohnung zu finden. Wer dazu noch wenig verdient, vielleicht einmal Betreibungen hatte, der hat eigentlich keine Chance mehr, eine anständige Wohnung zu finden. Wir haben eine Studie gemacht, die zeigte, dass über 80 Prozent der Armutsbetroffenen in der Schweiz zu viel für ihre Wohnung bezahlen. Ich finde es bemerkenswert, dass sich eine Mehrheit der Stimmbürger mit diesen Menschen solidarisch zeigt.
Womöglich ging es der Mehrheit gar nicht um Solidarität, sondern schlicht um persönliche Befürchtungen, die Wohnung zu verlieren oder in einen Rechtsstreit zu geraten.
Piñeiro: Die Beweggründe waren sehr unterschiedlich. Es gab einzelne Schicksale, Massenkündigungen, Hausbesetzergeschichten, welche die Leute aufgerüttelt haben. All diese Beispiele zeigen, dass wir es nicht mit individuellen Problemen, sondern mit einer strukturellen Krise zu tun haben.
Knöpfel: Die Leute sehen, dass überall gebaut wird, aber sie sich die Wohnungen nicht leisten können. Das weckt Ängste. Ob aber der Staat die Hoffnungen wird erfüllen können, die nun an ihn gerichtet werden, ist fraglich. Ich glaube nicht, dass wir Mietzinskontrollen erleben werden oder andere direkte Eingriffe in den Markt. Was ich mir vorstellen kann, sind Bedingungen beim Bebauen von neuen Arealen.
«Ich glaube nicht, dass wir Mietzinskontrollen erleben werden oder andere direkte Eingriffe in den Markt.»
Bislang bestand die Basler Wohnpolitik aus zwei Teilen: Investoren sollen möglichst viele Wohnungen bauen und Genossenschaften für einen kleinen sozialen Ausgleich sorgen. Ist die Strategie gescheitert, wonach der Markt die Probleme im Wesentlichen löst?
Knöpfel: Ja, das ist sie. Materiell betrachtet ist die Sache völlig klar: Haushalte mit tiefen Einkommen bezahlen viel zu viel für ihre Wohnungen. Familien, die von ausserhalb der EU zugewandert sind, haben häufig zu kleine Wohnungen. Und ältere Leute leben oft in einem ungünstigen Umfeld. Von älteren Mietern wird oft gefordert, sie sollen ihre grosse Wohnungen freigeben. Auf dem Markt bezahlen sie dann aber für eine 2-Zimmer-Wohnung mehr als für ihre bisherige 4-Zimmer-Wohnung. Der Markt bewältigt diese Schwierigkeiten nicht.
Piñeiro: Ausserdem ist die Unterstützung beim Zugang zu günstigem Wohnraum ungenügend. Die soziale Wohnvermittlung ist viel zu schwach aufgestellt. Da braucht es einen grösseren Effort des Staates. Bestehende Institutionen wie die IG Wohnen oder die Stiftung Wohnhilfe verfügen über viel Erfahrung. Vielleicht könnten sie ihr Angebot ausbauen. Aber der Aufbau einer breiter aufgestellten Wohnvermittlung für Haushalte bis in den Mittelstand, die es auf dem Wohnungsmarkt schwer haben, braucht viele Jahre.
Knöpfel: Vermittlung ist das eine, es braucht aber auch materielle Unterstützung. Es gibt viele Menschen, die können keine Kaution auf den Tisch legen. Wer übernimmt diese? Ich war lange bei der Caritas. Wir haben dort in Fribourg im grossen Stil Wohnungen angemietet und dann an Flüchtlinge untervermietet. Die erhalten sonst keine Wohnungen. Der Markt spielt nicht: Es gibt einen grossen Bedarf, aber kein genügendes Angebot.
«Die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt hat etwas mit Stereotypen und Ängsten zu tun.»
Anstatt in den Markt einzugreifen, setzt Basel-Stadt immer stärker auf die finanzielle Unterstützung von Mietern. Was ist falsch daran?
Knöpfel: Das funktioniert nicht, weil der Markt auf jede Erhöhung der Zulagen reagiert. Das wissen wir aus den Sozialämtern. Wenn deren Klienten mehr Wohngeld zur Verfügung haben, werden die Gammelwohnungen um denselben Betrag teurer.
Piñeiro: Das ist ein grosses Dilemma. Der Staat muss sich die Fragen stellen: Wie können wir sozial engagierte Vermieter gewinnen? Und wie können grosse Verwaltungen sensibilisiert werden? Der Staat sollte viel stärker eine Vermittlerrolle einnehmen und alle Involvierten zum Dialog anhalten.
Das tönt nach sanften Massnahmen. Was spricht gegen einen Diskriminierungsschutz auf dem Wohnungsmarkt?
Piñeiro: Die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt hat etwas mit Stereotypen und Ängsten zu tun. Die übrigens seit Jahrzehnten ähnlich sind. Es ist stossend, dass bei einer existenziellen Frage wie beim Wohnen solche Faktoren derart dominant sind. Es braucht stärkere Vermittlungsagenturen, die sich nicht nur an Randständige richten, sondern auch die Mittelschicht bedienen. Weitergehende Eingriffe scheinen nicht zur liberalen Haltung des Staates zu passen. Die Devise lautet: Investoren bauen und der Staat kümmert sich um die negativen Folgen davon.
Knöpfel: Natürlich kann der Staat intervenieren, er ist ja auch Bodenbesitzer. Das Problem ist aber, dass der Staat mit seinem Boden Geld verdienen will. Schauen Sie sich die Überbauung auf dem Gelände des ehemaligen Kinderspitals an. Vor dem Bau hat man eine schöne Umfrage im Quartier gemacht, die klar sagte, was sich die Leute wünschten: eine sozial durchmischte Überbauung. Davon ist nichts übrig geblieben, obwohl der Kanton bei der Abgabe des Baurechts das hätte einfordern können. Das Abwägen der verschiedenen Interessen geht in Basel häufig zu Ungunsten von Armutsbetroffenen und Einkommensschwachen aus.
Der Kanton will in Basel vermehrt günstige Wohnungen selber zur Verfügung stellen. Ist das der richtige Ansatz?
Knöpfel: Die klassische Objekthilfe mit ganzen Häusern oder Siedlungen für Armutsbetroffene bringt nichts. Es gibt neue, vielversprechende Wege, die zum Beispiel von der Stiftung Habitat im Erlenmatt-Quartier verfolgt werden. Dort plant sie einzelne Wohnungen für sozial Schwache, etwa für Sozialhilfeempfänger. So wird die Ghettoisierung verhindert. Das ist der Königsweg, doch auch da muss sich der Staat viel stärker einbringen. Man kann es nicht dem Goodwill von einzelnen Stiftungen überlassen, dass durchmischte Überbauungen entstehen.
Piñeiro: Wir wissen gar nicht, wie viel soziales Potenzial der private Wohnungsmarkt hat. Es würde sich lohnen, den Dialog zu verstärken und die Liegenschaftsbesitzer vermehrt für soziale Fragen zu sensibilisieren. Bislang sind es eher kleine Verwaltungen und Private, welche mit sich reden lassen. Man müsste auch mit den grossen Verwaltungen sprechen, damit sie ihre Vermietungspraxis ändern.
Knöpfel: Hier haben wir ein weiteres Problem. Die grössten Eigentümer sind die Pensionskassen. Unter Umständen bin ich Mieter einer Wohnung, die der eigenen Pensionskasse gehört. Da kann ich mich gleich selber fragen, will ich eine tiefe Miete oder eine bessere Pension. Dieses Dilemma müssen wir auflösen. Ein Weg könnte sein, dass Pensionskassen von jungen Familien weniger Miete verlangen als beispielsweise von 50-Jährigen, die näher an der Rente sind.
Braucht es auch Regeln für Genossenschaften, damit vermehrt Ausländer und Geringverdiener Wohnungen erhalten?
Knöpfel: Bei vielen Genossenschaften ist die Durchmischung in den Statuten geregelt. Aber das lässt sich nur bei einer Neuvermietung durchsetzen. Man kann ja nicht nach fünf Jahren einen Mieter rauswerfen, weil etwa die Kinder ausgezogen sind. In Zürich ist dieses Problem ausgeprägt, dort baut man immer mehr neue Genossenschaften, weil es kaum Fluktuation bei den bestehenden gibt. In Basel wird dasselbe passieren.
Piñeiro: Ich finde das auch richtig. Hier geht es um Lebensverläufe. Das ist ein extrem harter Eingriff, jemanden nach 20 Jahren rauszuwerfen, weil er die Bedingungen nicht mehr erfüllt. Gerade ältere Bewohner sind auf die bewährte soziale Einbettung angewiesen.
Knöpfel: Je älter man wird, desto wichtiger wird das Wohnumfeld. Das verkennt man gerne, das stimmt. Als ich jung war, bin ich nach zwei Jahren umgezogen, da war mir egal, ob ich neue Nachbarn erhalte. Doch mit der Familiengründung wird man sesshaft, dann will man keine staatlichen Regeln, die einen vor die Türe setzen. Bei älteren Menschen gilt das noch viel mehr.
«Wir produzieren die Sozialfälle der Zukunft.»
Der angespannte Wohnungsmarkt ermöglicht es Vermietern, die künftigen Mieter sehr selektiv auszusuchen. Hat es schwer, wer nicht der Norm entspricht?
Piñeiro: Für Menschen mit psychischen Problemen oder für Süchtige gibt es gute Betreuungsangebote, damit diese der Norm entsprechend leben können. Das reicht aber nicht, es fehlen Räume, um anders wohnen zu können.
Knöpfel: Für junge Leute, die experimentell wohnen, für kollektive Wohnformen gibt es kaum Spielräume. Selbst Zwischennutzungen sind stark reglementiert.
Sind wir da nicht offener geworden als Gesellschaft?
Piñeiro: Ich glaube nicht. Wir haben heute Hunderte studentische Wohngemeinschaften, die vollkommen akzeptiert sind. Das war in den 70er-Jahren nicht anders. Es gab damals aber auch anderen Formen, die Kommunen, die nicht genau fassbar waren und nach wie vor kritisch betrachtet werden. Gegenüber Hausbesetzern etwa ist das Klima immer noch recht scharf. Vor Besetzungen besteht eine grosse Angst, weil sie etwas Grundsätzliches infrage stellen: das Eigentum. Aber das Gegenargument, das Recht auf Wohnen, ist etwas Existenzielles. Der Basler Philosoph Hans Saner hat die Frage gestellt: Wo ist die Legitimität grösser, wenn man beide Interessen gegenüberstellt?
Und welches Interesse gewinnt?
Piñeiro: Das unterscheidet sich von Fall zu Fall. Ingesamt glaube ich nicht, dass wir als Gesellschaft solchen Wohnformen gegenüber toleranter geworden sind. Schauen Sie sich das Beispiel Wagenplatz an: Das wird sofort problematisiert. Die Leute stören sich am Lärm, am Lebensstil, ohne es genau zu kennen. Und sofort wird ein Politikum daraus gemacht. Wir kennen das aus der Geschichte: Das Autonome Jugendzentrum (AJZ) von 1981 gab es nur drei Monate, aber was das mit der Stadt gemacht hat, war unglaublich. Das hat die Gesellschaft infrage gestellt, die Art und Weise, wie wir zusammenleben. Diese Kritik ist wichtig und auch die Debatte, was als richtiges und was als falsches Wohnen zählt.
Knöpfel: Das hat sich in der kollektiven Erinnerung eingefressen. Davon hat man heute noch eine Vorstellung, auch wenn man gar nicht dabei war.
Sprechen wir noch über Stadtentwicklung. Beginnt Wohnpolitik nicht mit der Gestaltung des Umfelds, des Aussenraums?
Knöpfel: Ja, natürlich. In der Stadt Zürich hat man die Adressen der Sozialhilfebezüger mit dem Lärmkataster verglichen, da stimmt alles überein. Nun haben aber Kinder, die wegen Strassenlärm nicht schlafen können, Mühe in der Schule. Da produzieren wir die Sozialfälle der Zukunft. Wollen wir eine bessere Wohnqualität in der Stadt, müssen wir alles anschauen, nicht einfach Preis und Verfügbarkeit von Wohnungen.
Bei unserer Klybeck-Reportage war die Strasse der Rückzugsort der Kinder, weil die Wohnungen zu eng sind und die Eltern lange arbeiteten. Ist das problematisch?
Piñeiro: Es gibt einfache Antworten auf diese Probleme. Zum Beispiel das Projekt Spielboden in der Aktienmühle, wo Kinder und Eltern einen sicheren Ort haben, an dem sie sich aufhalten und austauschen können. Das sind Projekte mit sehr kleinen Budgets, die sehr viel bewirken.
«Wie man lebt, wie man arbeitet, wie man zur Schule geht – alles wird auf seine Produktivität hin beurteilt.»
Bei der Reportage kam auch heraus, dass sich die Kinder selber organisierten und sich soziale Gefüge bildeten. Muss man da eingreifen, muss man diese Verhältnisse problematisieren?
Knöpfel: Schaut man es empirisch an, ist die Sache eindeutig. Solche Kinder haben in der Schule ein Problem. Nicht-Betreuung führt zu Schwierigkeiten. Es reicht nicht zu schauen, dass kein Kind unters Auto kommt.
Piñeiro: Aber wie sich der Aussenraum gestaltet, ob es Eingriffe braucht oder nicht, sind wichtige Fragen. Im Vergleich mit den 70ern ist die Normierung, die Vorstellung davon, was zu sein hat, strenger geworden. Was nicht effizient und klar strukturiert ist, fällt sofort auf, wird sofort problematisiert. Heute leben wir leistungsorientiert, wie man lebt, wie man arbeitet, wie man zur Schule geht – alles wird auf seine Produktivität hin beurteilt. Das verändert die Gesellschaft.
Knöpfel: Kitas wurden ausgebaut…
Piñeiro: Ja, und schon dort werden Erwartungen ans Kind formuliert. Es gibt Monitoring-Programme, die messen, was normal ist und was davon abweicht. Die Variabilität dessen, was gesellschaftlich zulässig ist, schrumpft. Gerade bei Kindern.
Spiegelt sich die Gesellschaft in der Art und Weise, wie wir wohnen?
Knöpfel: Ein Stück weit sicher. Der Individualismus als Kernprinzip unserer Gesellschaft findet seinen Niederschlag im Wohnen. Die Wohnflächen werden immer grösser – aber auch die Absenzen: Häufig sind wir gar nicht zu Hause. Wir arbeiten wie Wahnsinnige und gehen dreimal im Jahr in die Ferien, nutzen also den Wohnraum gar nicht mehr aus.
Piñeiro: Ich glaube schon, dass es einen starken Zusammenhang gibt. Wohnen gilt als etwas sehr Privates, hat mit Lebensstil zu tun. Wir differenzieren uns sehr stark darüber. Man will sich übers Wohnen ausdrücken. Wo man wohnt und wie, das ist entscheidend. Da gibt es eine grosse Kohärenz der sozialen Schichten, was sich übrigens seit hundert Jahren kaum verändert hat. Jede Klasse hat ihre Wohnlage, ihr Quartier, ihren Wohnstandard.