«Ich weiss nicht, warum ich so geprägt bin, warum ich mich von Buben angezogen fühle. Ich stehe halt auf schmale Silhouetten und unbehaarte Körper.» Solche Aussagen machen es nicht leicht, die journalistische Distanz und Neutralität zu wahren.
Alles ist grau an diesem Nachmittag. Der Himmel, der Nieselregen, die Föhnwinde. Das Wetter passt zum flauen Gefühl, das den Journalisten im Magen liegt. Wir sind unterwegs zu einem Gesprächstermin mit einem pädophilen Mann.
Wir sind aufgrund eines Artikels über Selbsthilfegruppen mit ihm in Kontakt getreten. In einem Online-Kommentar hatte er sich darüber beklagt, dass sein Antrag für die Gründung einer Selbsthilfegruppe für Pädophile abgelehnt worden sei. Wir wollten ihn anhören. Jetzt sind wir hier.
Alois, so wollen wir ihn nennen, hat das Restaurant Seegarten in Münchenstein als Treffpunkt vorgeschlagen. An seinem Hund sei er zu erkennen. Es ist kein Mann mit Hund in Sicht. Wir drehen eine Runde durchs Restaurant, unsere Gedanken kreisen mit. Könnte es dieser ältere Herr da in der Ecke sein? Die Kinder in der Spielecke fallen uns auf. Werden wir es schaffen, sie während des Gesprächs auszublenden?
Ein bisschen hoffen wir, dass Alois den Termin platzen lässt. Dann erscheint er mit etwas Verspätung doch noch. Mit einem höflichen Lächeln reicht er uns die Hand. Er scheint viel weniger Scheu uns gegenüber zu haben als umgekehrt. Wir setzen uns etwas abseits an einen Tisch, er bestellt sich eine Cola Zero.
Pädophil sein ist kein Verbrechen, Pädophilie ausleben hingegen schon.
Alois ist 57 Jahre alt und pädophil. «Pädophilie» ist eine Krankheit. Fachleute sind sich nicht einig darüber, ob sie heilbar oder nur kontrollierbar ist. Pädophil sein ist kein Verbrechen, Pädophilie ausleben schon. Jeglicher sexuelle Kontakt mit Kindern und Jugendlichen unter 16 gilt in der Schweiz als Missbrauch. Denn da sind sich die Fachleute einig: Wenn Erwachsene mit Kindern Sex haben, schadet das den Kindern.
Alois hat seine sexuelle Präferenz, wie man es nennt, ausgelebt. «Mit Buben, aber nicht mit kleinen Kindern», betont er. Für ihn macht das einen Unterschied. «Meine Präferenz sind zum Glück 13- bis 14-Jährige.» Es sei aber auch mal ein Zwölfjähriger darunter gewesen.
Elf Jahre Gefängnis
Zweimal wurde er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Beide Male konnte man ihm sexuelle Handlungen mit jeweils zwei Minderjährigen nachweisen. Das letzte Mal vor über 15 Jahren. Alois sass deswegen elf Jahre lang im Gefängnis. 35 Monate als Strafe für sexuelle Handlungen mit zwei Kindern und acht Jahre in sogenannter «kleiner Verwahrung» (nach Artikel 59 des Strafgesetzbuchs), wie man therapeutische Massnahmen in einer Strafanstalt bezeichnet.
Sein Vermieter hatte ihn angezeigt. «Weil er beobachtet hat, dass ich immer wieder ein Kind zu Besuch hatte.» Zuerst hätten er und der betroffene Bub die Handlungen bestritten. Ein Jahr später habe der 14-Jährige aber sexuelle Handlungen zu Protokoll gegeben.
Alois äussert sich offen und ausführlich über seine Veranlagung. Er wisse nicht, warum er so geprägt sei, sagt er. Er empfinde schmale Silhouetten und unbehaarte Körper als anziehend. Und ja, er könne seine Homosexualität auch mit Erwachsenen ausleben – aber nur bis zu einem gewissen Punkt. «Das ist wie beim Essen: Wenn ich Hunger habe, kann ich ein Stück Brot essen, aber die Lust auf ein Stück Fleisch ist deswegen nicht weg. Irgendeinmal möchte ich schon wieder ein Stück Fleisch.»
Ein kleines Kind nähert sich unserem Tisch, fühlt sich offensichtlich vom Hund angezogen. Alois reagiert nicht, bleibt konzentriert ins Gespräch vertieft, und wir hoffen, dass das Kind, dem wir sonst sicher freundlich zugewinkt hätten, möglichst schnell wieder verschwindet.
Halbe Reue
Alois erzählt derweilen, wie er mit den Kindern in Kontakt getreten und wie es zu den sexuellen Handlungen gekommen ist:
«Sie sind zu mir gekommen, haben ihre Hausaufgaben gemacht, Videogames gespielt. Dann hat eines der Kinder mal bei mir übernachtet. Das erste Mal im Gästezimmer, dann bei mir im Bett, das dritte Mal nur noch mit einer Unterhose bekleidet, dann folgte beim Herumbalgen irgendeinmal der Griff ans Schnäbi. Es ist ein spielerisches Herantasten.»
Einige Eltern der betroffenen Kinder hätten von diesen Besuchen gewusst.
Bis zum Äussersten sei er aber nicht gegangen. Herumbalgen, sich gegenseitig anfassen, zusammen onanieren. Später verwendet Alois dann doch ein paarmal den Begriff «blasen». «Aber es gab keine Penetration.» Alois betont, dass es ihm nicht nur um sexuelle Handlungen gegangen sei:
«Die Gesellschaft ist überzeugt, dass ein Pädophiler nur Sex möchte – dem ist aber nicht so. Ich machte mich nicht auf Spielplätzen oder in Gartenbädern an Kinder heran und ging dann mit ihnen hinter den nächsten Busch. Für mich war es immer wichtig, eine Beziehung und Nähe zu den Jungen aufzubauen, Freundschaften, die weit über die sexuellen Handlungen hinausgehen. Wenn die Knaben etwa Streit mit den Eltern hatten, erzählten sie mir davon. Ich als Pädophiler habe eine sehr nahe Beziehung zu Kindern, das können Menschen ohne diese Neigung nicht verstehen.»
Nein, das können wir Menschen ohne diese Neigung nicht verstehen. Dass es ihm nicht so schwer gefallen sein muss, das Vertrauen der Kinder zu erlangen, schon eher. Alois ist, wenn man vom Inhalt seiner Worte absieht, ein angenehmer, sehr aufmerksamer und freundlicher Gesprächspartner – einer, der wohl auch gut zuhören und einfühlsam wirken kann.
«Mit 25 Jahren sprach ich meine Pädophilie bei einem Arzt an. Der drohte sofort damit, die Polizei einzuschalten»
Ob er denn kein schlechtes Gewissen gehabt habe, wollen wir immer wieder wissen. Nur zum Teil, wenn er sich an ein paar Buben erinnere, bei denen praktisch nur er den aktiven Part innegehabt habe, weil sie noch zu jung gewesen seien. Aber:
«Bei den 14-Jährigen, mit denen ich zusammen war, bin ich auch im Nachhinein überzeugt, moralisch nichts falsch gemacht zu haben. Rechtlich schon. Aber meiner Meinung nach wäre eine Herabsetzung des Schutzalters auf 14 Jahre wie in Deutschland angebracht – immer unter der Voraussetzung natürlich, dass beide Seiten freiwillig mitmachen. Ich hatte mit Buben zu tun, die sehr aktiv waren. Die etwa sagten: ‹Komm, blas mir eins.›»
Geschlagenes Kind
Solche Aussagen höre man oft von Pädophilen, es sei eine Strategie, mit der eigenen Pädophilie umzugehen, sagt Marc Graf. Der Direktor der Forensischen Klinik UPK therapiert in den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel pädophile Männer (siehe Interview). Er sagt: «Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Sex mit Erwachsenen den Kindern schadet. Es gibt keine Daten, die etwas anderes zeigen würden.»
Auch bei uns lösen Alois’ Aussagen neben Unbehagen eine ganze Reihe von Fragen aus: Wird bei einem 14-Jährigen das Wort «freiwillig» nicht etwas arg strapaziert, wenn es um sexuelle Handlungen mit Erwachsenen geht? Kann man als Erwachsener davon ausgehen, dass ein Kind spürt, was es will, und sich traut «Nein» zu sagen? Ist es nicht die Verantwortung des Erwachsenen, der Person in der stärkeren Position, die Grenze zu ziehen, den Jüngeren zu schützen?
Eine Diskussion entspannt sich über das Wesen der Sexualität von Kindern. Alois scheint sehr viel darüber nachgedacht zu haben. Ruhig und gefasst sagt er:
«Kinder werden immer als Opfer dargestellt, besonders wenn es um Sexualität geht. Das stimmt nicht. Nicht jeder sexuelle Umgang mit Kindern schadet ihnen. Es wird tabuisiert, dass Kinder auch eine Sexualität haben, diejenigen, die sexuelle Kontakte geniessen, hört man einfach nie. Und es ist auf der anderen Seite ja auch nicht so, dass Kinder nur durch sexuelle Handlungen zu Opfern werden können. Wenn man sie zum Beispiel ins Badezimmer einsperrt oder sie schlägt, werden sie auch zu Opfern.»
Alois kennt das. Auch er wurde geschlagen als Kind, niemanden habe das gekümmert. «In diesen Fällen habe ich mich als Opfer gefühlt.» Nicht aber, als er im Internat – Alois spricht auch von «Bubenheim» – seine ersten sexuellen Erfahrungen mit anderen, älteren und jüngeren Buben gemacht habe. «Jeder, der wollte, machte mit, die anderen halt nicht.»
Damals im Heim, also im Alter von 13 bis 16 Jahren, habe sich seine Prägung erstmals offenbart – eine, mit der er viel zu lange allein gelassen worden sei: «Mit 25 Jahren sprach ich meine Pädophilie bei einem Arzt an. Der drohte sofort damit, die Polizei einzuschalten», erzählt er.
Einige Jahre später habe er es noch einmal versucht, sei aber aus der Praxis geworfen worden. «Ich wollte über mein Problem sprechen und kein Täter werden, aber das Thema ist so tabuisiert und geächtet, dass ich überall sogleich an Grenzen und Zurückweisung stiess», sagt er. Etwas, was er als sehr kontraproduktiv empfindet. Für einmal sind wir uns einig.
Selbsthilfegruppe nur mit Aufsicht
Plötzlich taucht nach all den Ausführungen über die potenziell sexuell mündigen 14-Jährigen der Begriff «Täter» also doch noch auf. Hier zeigt Alois ein anderes Gesicht. Er wolle in erster Linie über das Thema sprechen können, frei und ohne Angst vor Repression, sagt er. «Meine Veranlagung ist eine Strafe, es wäre so viel einfacher, ein ganz normaler Hetero sein zu können», sagt er. Etwa bei Freundschaften: Ein Freund mit Söhnen im Jugendalter hat den Kontakt abgebrochen. Nicht weil er wollte, sondern weil er musste. Seine Frau bestand darauf.
Deshalb auch Alois’ Wunsch, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, um mit seinen Problemen nicht so alleine gelassen zu sein und im Wissen darum, dass es anderen Pädophilen auch so geht, wie er sagt. «Die Gründung einer Selbsthilfegruppe wurde aber mit dem Argument abgelehnt, dass Pädophilie illegal ist – aber eine Veranlagung ist doch nicht illegal, höchstens die Handlungen daraus können illegal sein», sagt er.
«Mein offizieller Therapeut ist der verlängerte Arm der Justiz. Dem kann ich ja nicht sagen, ich hätte einen Bub gesehen, der mir gefalle.»
So schwarzweiss ist die Situation aus Sicht der Stiftung Selbsthilfe Schweiz nicht. Die Stiftung war nach eigenen Angaben und nach Rücksprache mit Fachleuten bereit, eine Selbsthilfegruppe für Pädophile entstehen zu lassen – aber mit Fachbegleitung. Bei solchen Gruppen wird die Selbsthilfegruppe jeweils von einer Fachperson der Selbsthilfe geleitet und begleitet. Der Verband Selbsthilfe Schweiz führt auf Anfrage aus:
«Im oben genannten Fall führte die fachliche Einzelbeurteilung zum Schluss, dass die Person nicht unterstützt wird in der Gründung einer unbegleiteten Selbsthilfegruppe zum Thema Pädophilie. Die Fachpersonen empfehlen eine Fachbegleitung, die betroffene Person wurde an zwei Fachstellen weiterverwiesen, namentlich an das Männerbüro und eine geleitete Gruppe in den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.»
Es ist dies wohl eine Absicherungsmassnahme des Verbands. Alois sieht das anders: «Warum denkt man bei Pädophilen sofort, dass sie sich vernetzen und etwas anstellen wollen? Denkt man das bei Gewalttätern auch?» Alois wollte die Selbsthilfegruppe selber leiten. Was würde er denn einem Pädophilen raten, der auf kleine Kinder steht? «Mach nichts, würde ich ihm sagen», sagt Alois. «Das ist übel, wenn du auf kleine Kinder stehst.»
Auch er selbst lässt jetzt seine Finger von Kindern. «Ich habe seit meiner Gefängnisstrafe ein Kontaktverbot und bin auf Bewährung», sagt er. «Ich werde mich hüten, hier in der Schweiz mit Kindern in Kontakt zu treten, ich möchte nicht mehr ins Gefängnis, das würde ich nicht überstehen.»
Grenzen der Diskussion
Über seine Zeit im Gefängnis, namentlich in der Strafanstalt Thorberg, spricht Alois wenig. Er sei von den Mitgefangenen gemieden worden und auch er habe den Kontakt nicht gesucht. Und die therapeutische Massnahme – Gesprächstherapie, aber keine medikamentöse Kastration – sei eine «Zwangstherapie» gewesen, die überdies dadurch erschwert worden sei, dass seine Therapeuten keiner ärztlichen Schweigepflicht unterworfen gewesen seien.
«Das ist jetzt in meiner Bewährungszeit noch so», sagt er. «Mein offizieller Therapeut ist der verlängerte Arm der Justiz. Dem kann ich ja nicht sagen, ich hätte einen Knaben gesehen, der mir gefalle. Dann wird mein Rückfallrisiko grad als höher eingestuft.» Um wirklich frei sprechen zu können, müsse er sich privat einen weiteren Therapeuten leisten.
Irgendwann möchte Alois schon wieder «Fleisch essen», wie er sagt. «Aber nicht in der Schweiz.» Heisst das etwa, er spielt mit dem Gedanken an Kinderprostitution im Ausland? «Ich habs mir schon überlegt. Aber wie gesagt, ich will ja nicht einfach sexuellen Kontakt. Mir geht es um die Beziehung.»
Jetzt werden wir Journalisten wieder deutlich und persönlich, fangen – unbeabsichtigt – zu moralisieren an: Sie sind sich schon bewusst, dass Kinderprostitutierte ausgebeutet und fürs Leben traumatisiert werden? Auch rechtlich ist klar: Sexuelle Handlung mit Kindern im Ausland sind ebenfalls verboten. Alois lässt sich nicht auf die Diskussion ein.