Innert 72 Stunden wurde die französische Flagge vom Solidaritäts- zum Kriegssymbol. Das ist brandgefährlich. Denn mittlerweile bewirtschaftet auch Frankreich machtpolitisch die Angst Europas.
Angst stinkt. Sie macht uns nicht nur verwundbar und vernebelt unser Denken, sie ist auch noch ein mieser Ratgeber dazu. Erst recht jetzt, nach den Attentaten in Paris und damit mitten im grossen europäischen Schockzustand. Die Angst wird zu einem Virus, das das Immunsystem den eigenen Körper angreifen lässt.
Und Europa bebt vor Angst. Angst davor, dass sich das, was in Paris am Freitag geschehen ist, jederzeit wiederholen kann. Angst davor, dass es jeden treffen kann, weil wir so leben, wie wir leben wollen. Denn unsere Freiheit sei das Ziel der Attentäter gewesen, kommentieren Politiker und Journalisten. Das heisst, wir würden alle, die unseren Alltag so leben, wie es in dieser westlich-liberalen Gesellschaft üblich ist, zum Ziel.
Das schürt eine fiese Angst, denn sie ist unfassbar. Sie liegt irgendwo zwischen Betroffenheit, zwischen der schieren Vorstellung auch, dass es jedem hätte passieren können, und der Fassungslosigkeit angesichts der Grausamkeit und der Tatsache, dass Terroristen scheinbar wahllos im Herzen Europas über hundert Zivilisten umbringen können. Dazu der Schock und das Bedürfnis, irgendetwas tun zu müssen: Sei es ein Solidaritäs-Profilbildwechsel auf Facebook, eine spontane Kundgebung, wie in verschiedenen Städten, eine europäische Schweigeminute. Irgendetwas muss man ja tun.
Die erste Frucht der Attentate
Die Angst ist die erste Frucht der Attentate. Terror destabilisiert, er pervertiert gesellschaftliche Konventionen, in Paris indem er das Unfassbare tat: Menschen scheinbar grundlos sterben zu lassen, Menschen, die ja nur ein paar Stunden des Vergnügens suchten. Ein Massaker in einem Konzertlokal, versuchte Bombenattentate an einem Fussballspiel, Schüsse in Cafés.
Die Wirkung im Ziel ist grösstmöglich: Schock und Angst. Sitzt das Virus erst einmal im Körper, fährt das Immunsystem hoch.
«Krieg», ruft Frankreichs Präsident François Hollande, versetzt sein Land in den Ausnahmezustand, will die innereuropäischen Grenzkontrollen wieder einführen und setzt zu ersten Vergeltungsschlägen gegen den IS an, der sich zu den Attentaten in Paris bekannt haben soll. «Krieg», rufen mit ihm die Kommentatoren in den Medien, Strategie-Experten geben bereits Wort, dass wir nun auch in der Schweiz lernen müssten, «mit weniger Freiheit auszukommen».
Es geht gar nicht um die vermeintliche Freiheit
Der Virus hat Erfolg. Das System beginnt zu eskalieren. Dabei geht es im Kern gar nicht um die vermeintliche Freiheit einer kapitalistisch-europäischen Lebensweise. Sie ist nur das dankbare und verwundbare Ziel, um Regierungen in ihrem Tiefsten zu treffen, der Zivilgesellschaft.
Es sind Staaten wie Frankreich, die den IS in seinem Kerngebiet bekämpfen, auch mit Vergeltungsschlägen wie jetzt. Die Opfer in Paris sind aber keine Kriegsopfer. Sie sind unschuldige Menschen, die ermordet wurden, weil ihre Regierung an Kampfhandlungen teilnimmt.
Das ist asymmetrische Kriegführung: In Frankreich rollen keine Panzer auf wie in Syrien. Im Herzen Europas ist der Terror das Instrument der Stunde. Je symbolträchtiger der Ort, je verwundbarer die gesellschaftlichen Konventionen, desto schmerzhafter der Effekt und also erfolgreicher die Massnahme. Wenn du nicht ausreichend Mittel hast, deinen Gegner direkt zu bekämpfen, dann lass ihn sich mit möglichst wenig Aufwand selbst fertigmachen.
Dass einer der Attentäter einen syrischen Pass auf sich getragen haben soll, zeigt vor allem, dass die Urheber mit den bereits vorhandenen Ängsten Europas bestens umzugehen wissen: Es braucht wenig, um die menschenverachtende Rhetorik rechtsnationaler Kreise angesichts ihrer Überforderung mit der internationalen Flüchtlingssituation aufzuheizen.
Ist der Virus erst einmal im System, erledigt das System die Arbeit praktisch von alleine.
Tatsache ist, dass die syrischen Flüchtlinge vor genau jenem Krieg fliehen, der nun als Grund für die Attentate in Paris angeführt wird. Dies akzentuiert lediglich die Tatsache, dass die Flüchtlingskrise nun erst recht zur grössten humanitären Herausforderung unserer Zeit wird. Und nicht, dass Grenzkontrollen wieder einzuführen seien und Schengen ausgehebelt werden muss.
Das ist der Grund für Terror: Regiert erst einmal die Angst, ist der Weg zur Destabilisierung einer Gesellschaft nicht mehr weit. Der IS kennt sich damit aus, er tut im Irak und in Syrien dasselbe – und darüber hinaus noch mit weit mehr Gewalt. Ist der Virus erst einmal im System, erledigt das System die Arbeit fast von alleine.
Europa und auch die Schweiz brauchen keine Ausnahmezustände und schärferen Grenzkontrollen. Genauso wenig, wie die Ermordeten etwelcher Vergeltungsschläge bedürfen. Denn Rache ist ein genauso mieser Ratgeber wie Angst. Will Frankreich mit militärischen Mitteln seine politischen Interessen im Nahen Osten durchsetzen, so soll Frankreich dies tun – François Hollande ist Präsident eines souveränen Staates.
Es bleibt sein Spiel mit dem Feuer, wenn Hollande in die Fussstapfen George W. Bushs treten und als Vergeltung für einen tragischen Anschlag einen unheilvollen Kreuzzug gegen eine islamistische Organisation entfachen will, symbolträchtig wie weiland Napoleon Bonaparte. Und es sei Frankreich überlassen, ob es den Weg seines Präsidenten mitgehen will oder nicht.
Die Tricolore wird zum Kriegssymbol
Uns bleiben nur die Betroffenheit und die Aufgabe, mit den mutmasslich durch den IS in Paris verübten Terrorakten umzugehen. Vielleicht lassen wir die französische Flagge noch etwas in unserem Facebook-Profilbild, vielleicht aber auch nicht, wenn wir jetzt zusehen, wie Frankreich zum Bombardement schreitet und mit der Vergeltung von Menschenleben beginnt.
Nein, wir sind nicht im Krieg. Verhalten wir uns auch nicht so: Lassen wir uns nicht von der Angst leiten, die Terroristen absichtlich in unsere Köpfe und Herzen zu pflanzen versuchen. Trauern wir um die Verstorbenen, seien wir wütend auf die, die das Massaker verursacht haben. Aber nehmen wir uns gleichzeitig in Acht vor Machtdemonstrationen einzelner Nationalstaaten. Sie geschehen auf Kosten derer, die trauern, auf Kosten unserer eigenen Freiheit.
Denn letztlich sind es nicht die Terroristen, die uns die Freiheit nehmen; ihnen dient sie vor allem als verwundbare Zielscheibe für ihren Zweck, grösstmögliche Aufmerksamkeit und damit Wirkung zu erzielen. Es sind letztlich wir selbst, die zur Gefahr für unsere Freiheit und unsere Menschlichkeit werden. Und es ist diese Angst, dieses Virus, das uns verwundbar macht.
Unsere Freiheit verteidigen wir selbst, nicht die Regierungen
Und zwar indem wir unsere Angst bewirtschaften lassen. Zum Einen durch den gezielten Terrorismus, wie er in Paris zugeschlagen hat, und der uns destabilisieren will. Zum andern aber auch durch die Machtpolitik europäischer Regierungen, die mittels Notstände genau jene Freiheit zu beschneiden suchen, die sie zu verteidigen vorgeben. Und die gleichzeitig ihre eigene, humanitäre Aufgabe aufs Gröbste zu missachten droht.
Wir sollten uns also viel eher darüber Sorgen machen, was aus der seit Freitag so besungenen Freiheit unserer zivilisatorischen Werte geworden ist. Wenn ein Präsident in flammender Rede seine Nation zu den Waffen ruft, wenn wir Bomben mit Bomben vergelten und dazu die Menschen, die auf der Flucht vor den Grausamkeiten eines richtigen Kriegs sind, vor unserer Haustüre ertrinken lassen.
Und vielleicht fragen wir uns dann, ob es tatsächlich um einen Angriff auf unsere Freiheit geht. Oder ob es nicht doch eher darum geht, die Verantwortung gegenüber der eigenen persönlichen Freiheit wahrzunehmen. Und sie weder durch Angst beschneiden, noch sie zum Vorwand für Regierungen werden zu lassen, machtpolitische Interessen durchzusetzen. Schliesslich haben wir nicht das geringste Interesse, dieses Virus der Angst siegen zu lassen. Erst recht nicht im Sinne der Freiheit.