Der Feminismus ist stark auf der Strasse, doch im Parlament läuft er auf

Wenn der National- und Ständerat wieder einmal Gleichstellungsmassnahmen ausbremsen, wettern Feministinnen, die institutionelle Politik politisiere an der Gesellschaft vorbei. Stimmt das?

Zehntausende von Frauen demonstrierten am 8. März von der Türkei bis Buenos Aires. In Spanien waren es Millionen.

Wenn Beyoncé Feministin sein will und H&M magersüchtigen Models T-Shirts mit dem Schriftzug «Feminist» überzieht, heisst das noch gar nichts. Es führt nur dazu, dass Lifestyle-Journalistinnen hinten im Gesellschaftsteil ihrer Zeitung darüber sinnieren, ob Feministinnen glamourös sein können und wie das jetzt schon wieder mit der Beinbehaarung zusammenhängt.

Wenn dagegen der «Tages-Anzeiger», die NZZ oder die «Zeit Schweiz» regelmässig im Politikteil Hintergrundtexte zu frauenpolitischen Themen bringen, ist das bemerkenswert. Bemerkenswert, weil Frauenpolitik in den traditionellen Medien lange Jahre selten vorkam. Genauso wie Frauen: Medien berichten im Verhältnis häufiger über Politiker als über Politikerinnen, das zeigte eine Analyse der Berichte zu den Wahlen 2015 im Auftrag der Kommission für Frauenfragen.

Die neue Frauenbewegung hält an und hält an

Doch jetzt sind die Medien, eben, voll von Frauenpolitik, sogar von «Feminismus» ist die Rede. 2330 Artikel findet man zu diesem Stichwort zwischen dem 1. März 2016 und dem 28. Februar 2018 in der Schweizer Mediendatenbank SMD. Das sind 1000 Artikel mehr als in den zwei Jahren davor (1. März 2014 bis 29. Februar 2016).

Die Redaktionen können fast nicht anders: Eine neue Frauenbewegung ist am Start, und sie mobilisiert Menschen in den sozialen Netzwerken und auf der Strasse. Die TagesWoche schrieb vor einem Jahr von einer neuen – linken – feministischen Bewegung

Wie konnte das passieren? Eine kurze Chronologie:

  • Im Oktober 2016 tritt die Genderforscherin Franziska Schutzbach in der Schweiz unter dem Hashtag #Aufschrei eine Sexismusdebatte auf Twitter und Facebook los. Anlass ist die SVP-Politikerin Andrea Geissbühler, die sagte, Frauen trügen mit naivem Verhalten teilweise Mitschuld an ihrer Vergewaltigung. Die Debatte hielt Monate an. Ähnliches war vorher in Deutschland passiert.
  • Im März 2017 demonstrieren über 10’000 Frauen am Women’s March in Zürich gegen Sexismus. Das Vorbild dafür liefert ein Frauenaufmarsch in den USA. Dort hatten eine halbe Million Frauen in Washington gegen Donald Trumps Sexismus (man erinnere sich an seinen «Pussy-grabbing»-Spruch) demonstriert.
  • Seit Oktober 2017 läuft in der Schweiz die #Metoo-Debatte. Sie begann mit der amerikanischen Weinstein-Debatte, im Nachzug diskutiert auch die Schweiz über sexuelle Übergriffe gegen Frauen. Und sie tut es immer noch.
  • Am Tag der Frau, dem 8. März 2018, gehen in Schweizer Städten Tausende auf die Strasse. Ein paar Jahre davor waren es jeweils nicht mehr als ein paar zerstreute Grüppli gewesen. 
  • Die Bewegung ist international vernetzt: Auch in der Türkei, in den USA und in Südamerika demonstrierten die Frauen, in Spanien gingen am 8. März sogar mehrere Millionen auf die Strasse.

Alles Gender oder was?

In den hiesigen Medien sind es häufig Genderforscherinnen, Künstlerinnen oder Politikerinnen, die sich zu feministischen Themen äussern. Auch in den Gewerkschaften hat die Frauenbewegung Rückhalt. Toya Krummenacher, SP-Grossrätin und Präsidentin des Basler Gewerkschaftsbundes, spürt eine starke Mobilisierung auch bei Pflegefachfrauen, Wagenführerinnen, Hauswartinnen, Verkäuferinnen oder Grafikerinnen.

Und auch bei den Männern. Lange Zeit hatten es Frauenanliegen in den Gewerkschaften schwer. Krummenacher hörte von älteren Gewerkschaftern früher öfter: «Wir sollten uns nicht für die Lohngleichheit einsetzen, sondern für höhere Männerlöhne, sodass ihre Ehefrauen nicht arbeiten müssen.» Das habe sich geändert: «Auch unsere männlichen Gewerkschafter stehen heute für gerechte Löhne oder Teilzeitarbeit ein.»

Sie wollen nicht von heute auf morgen einfach «verschwinden». 8. März in Mexico City.

So viel zur Bewegung. Realpolitisch sieht die Situation ein bisschen anders aus. Ein bisschen sehr anders. In den Institutionen haben es feministische Anliegen schwer: Der Bundesrat sprach sich im Oktober gegen die Initiative für einen bezahlten Vaterschaftsurlaub aus. Die Initianten warfen ihm anschliessend vor, die Bedürfnisse junger Familien zu ignorieren, die Bevölkerung wünsche sich einen Vaterschaftsurlaub.

Vor zwei Wochen blitzten Lohngleichheitsmassnahmen im Ständerat ab. Das sei ein Schlag ins Gesicht jeder erwerbstätigen Frau, kommentierte die «Aargauer Zeitung» und der «Tages-Anzeiger» schrieb: «Wer faire Löhne zahlt, bekommt die Frauen.»

Ein neuer Frauenstreik

Die Linke will das nicht auf sich sitzen lassen: Gewerkschafterinnen planen als Reaktion auf den Entscheid am 14. Juni 2019 – also wenige Wochen vor den nationalen Wahlen – einen Frauenstreik. So wie 1991, als eine halbe Million Frauen für ein Gleichstellungsgesetz demonstrierten. Das Anliegen ist beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund deponiert.

Toya Krummenacher ist überzeugt, dass der Streik zustande kommt. Die Leute wüssten: «Ohne Lohngleichheit keine gerecht verteilte Teilzeitarbeit.» Auch Männer wollten je länger, je mehr Teilzeit arbeiten, scheiterten aber häufig gerade an der Lohngleichheit: «Wenn der Mann mehr verdient als die Frau, reduziert Mami, aber Papi nicht.»

Vaterschaftsurlaub, Lohngleichheit: Die Befürworterinnen sind überzeugt, dass das – männlich dominierte– Parlament in diesen Fragen an der Bevölkerung vorbeipolitisiert. 

«Die linken Feministinnen schrecken Frauen ab, die wirklich emanzipiert sind.»

Christian Wasserfallen, Nationalrat FDP

Anders sieht es, wenig überraschend, Christian Wasserfallen, Nationalrat und Vizepräsident der FDP. Auf Twitter hat er die «unkonstruktiven» Diskussionen über die Lohngleichheit kritisiert. Mit der jetzigen Frauenbewegung kann er wenig anfangen, er glaubt sogar, sie sei kontraproduktiv: «Die linken Feministinnen schrecken Frauen ab, die wirklich emanzipiert sind.»

Und zwar, weil sie Frauen als schutzbedürftige Wesen darstellten, die Hilfe aus der Politik bräuchten. «Es gibt heute viele emanzipierte Frauen, die die heutige Geschäftswelt so akzeptieren, wie sie ist, und sie dann von innen zu verändern beginnen.» Er bekomme von Frauen aus seinem Umfeld viele solche Rückmeldungen. «Diese Frauen denken anders und fühlen sich von den lauten Kundgebungen oft nicht wirklich angesprochen.» 

Tatsächlich stimmen etwa freisinnige oder SVP-Frauen häufig gegen Frauenquoten und andere Gleichstellungsmassnahmen, manchmal auch CVP-Frauen. In Riehen haben eine CVP- und eine FDP-Frau mit ihren Parteikollegen kürzlich Lohngleichheitskontrollen abgelehnt, dafür waren aber Männer und Frauen der LDP dafür.

Dennoch: Der Graben zwischen der Frauenbewegung und der bürgerlichen Politik, die im nationalen Parlament die Mehrheit hat, er existiert.

«Von der Strasse und den sozialen Medien bis ins Gesetz ist der Weg lang.»

Sarah Bütikofer, Politikwissenschaftlerin an der Uni Zürich.

Daraus zu schliessen, das Parlament politisiere an der Bevölkerung vorbei, sei aber falsch, sagt Sarah Bütikofer, Politikwissenschaftlerin an der Uni Zürich. «Die institutionelle Politik und die Frauenbewegung sind zwei ganz verschiedene Sachen.» Die Frauenbewegung sei zwar momentan stark und könne gut mobilisieren und auf ihre Anliegen aufmerksam machen. «Aber von der Strasse und den sozialen Medien bis ins Gesetz ist der Weg lang.» Das Parlament sei vom Volk gewählt und repräsentiere die Bevölkerung.

Das ist auch beim Ständerat so, der als Repräsentant der Kantone als  bürgerlichere der beiden Kammern gilt und zur Zeit einen Frauenanteil von nur 15 Prozent hat. «Natürlich ist der Ständerat von bürgerlichen Parteien dominiert», sagt Bütikofer. Aber gerade in staats- und verfassungsrechtlichen Fragen zeigen die Mitglieder der kleinen Kammer immer wieder eine progressive Haltung.

Jüngstes Beispiel: Diese Woche hat sich der Ständerat für eine weiche Frauenquote bei der Wahl von Bundesbehörden, was auch für den Bundesrat gilt, ausgesprochen. Der Anstoss kam von einem Freisinnigen: Raphaël Comte hatte eine entsprechende parlamentarische Initiative eingereicht. So soll es in der Verfassung heissen: «Dabei (den Wahlen, Red.) ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Landesgegenden, die Sprachregionen sowie die Geschlechter angemessen vertreten sind.»

Es gibt heute noch Frauenstimmrechts-Gegner

Grundsätzlich ist und bleibt es so: Die Schweiz ist bei Frauenrechten nicht das progressivste Land. «Dafür kennt man ausgebaute Volksrechte», sagt Bütikofer, und die ebneten feministischen Anliegen oft den Weg. Das dauert aber: Beim Frauenstimmrecht, der Fristenlösung oder der Mutterschaftsversicherung brauchte es mehrere Anläufe und Jahre, bis im Parlament und an der Urne eine Mehrheit dafür war. 

Aber Achtung, sagt Bütikofer: Auch ein Abstimmungserfolg bedeutet noch nicht, dass die ganze Gesellschaft dahinter steht: «Man darf nicht vergessen, beim Frauenstimmrecht waren 34 Prozent der Stimmbürger dagegen, 6,5 Kantone der Ost- und Zentralschweiz lehnten es ab.»

Es gibt wohl heute noch Kreise, die das Rad der Geschichte gerne zurückdrehen würden. Kein Wunder also, dass es mit dem Vaterschaftsurlaub nicht auf Anhieb klappt: Seit 2013 diskutierte das Parlament bereits mehrere Vorstösse für einen Vaterschaftsurlaub. Nun wird das Volk darüber abstimmen können.

Jeder ist der Nabel der Welt

Auch wenn die Frauenbewegung in der institutionellen Politik aufläuft: Ihre starke Präsenz in den Medien könnte dennoch eine Wirkung haben. Im Oktober 2019 sind nationale Wahlen. «Wenn die Parteileitungen ständig hören, die Frauen seien zu wenig repräsentiert, werden sie sich vielleicht bewusst, dass sie viele Frauen auf guten Listenplätzen und zahlreiche Frauen für Majorzwahlen (Ständerat) brauchen», sagt Bütikofer. Frauen mit guten Wahlchancen erhält man nur, wenn man sie gezielt fördert. Das zeigt die Vergangenheit.

Die FDP hat das gemerkt, wenn man Christian Wasserfallen glauben darf. «Ich habe Frauen gezielt bei Kandidaturen gefördert, seit ich bei den Jungfreisinnigen angefangen habe.» Seine FDP gehört zu den Parteien, die am wenigsten Politikerinnen in den Behörden stellt. Im Nationalrat hat die FDP-Fraktion (Stand Wahltag) nur 7 Frauen und 26 Männer. Bei der SVP sind es 11 Frauen und 54 Männer. CVP: 9 Frauen und 18 Männer, SP: 25 Frauen, 18 Männer.

Dass die Politik an der Bevölkerung vorbeipolitisiert, es ist ein bekannter Vorwurf. Man kennt ihn etwa auch von den Rechten, wenn es um sogenannt «fremde Vögte» oder Menschen mit Migrationshintergrund geht. 

Und jetzt eben die Frauenbewegung. Ob sie recht hat, ist im Gespräch mit Politikerinnen und Politikern schwer auszumachen. Gültige Antwort geben erst Volksabstimmungen. Etwa die über den Vaterschaftsurlaub. Zuerst kommt das Begehren aber nochmals ins Parlament, voraussichtlich Mitte 2018.

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