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  • Ein erotisches Sittenbild der französischen Gegenwart

    Liebe Franca Hänzi, Sie haben recht. Die Frage ist so alt wie die Darstellung der Liebe in der Kunst: Darf die Kunst uns daran erinnern, dass wir Sex vorzugsweise nackt, meist gar im Körperkontakt, oft sogar im heftigen Austausch von Ausdünstungen und Säften durchaus kennen, und eventuell sogar etwas Kunstvolles darin empfinden? Kunst darf das. Sagen die einen. Die andern sehen im dargestellten Sex das Ende der Kunst. Dieses Ende der Kunst wurde nicht erst nach Bergmans «Schweigen» verkündet. Schon Courbets «L’Origine du monde» durfte öffentlich nicht gezeigt werden. Eine Welle der Empörung schwappte durch die Gemeinde, als Patrice Chérau in «Intimacy» ein männlichen Glied im Akt zu zeigen wagte. Die Gewaltorgie «Baise-moi» von Virginie Despentes wurde in Frankreich von der rechtsextremen Partei MNR vor Gericht gezogen – nicht wegen der mörderischen Gewalt, wegen der sexuellen Praktiken der Täterinnen. Alle drei Filme stellen Nacktheit in einen Zusammenhang von Liebesbetrug, Liebesschmerz, Gewalt in der Liebe oder Rache. Diese Filme sind keine Nackt- oder Sexfilme, sondern haben thematisch ganz andere Gewichtungen. Nacktheit ist – wird sie in der Kunst mit Bedacht eingesetzt - immer ein Mittel über anderes nachzudenken als Nacktheit. Wenn durch Ihren Einwand allerdings der Eindruck entsteht, es handle sich um einen verkappten Softporno muss ich widersprechen. «La Vie d’Adèle» ist kein verkappter Softporno. Er ist nicht einmal ein Softporno. Es ist für ca. 2 von 180 Minuten ein richtiger Porno. In diesen - zugegeben langen – expliziten Minuten sehen wir, was für frisch Liebende vielleicht so schockierend wie lustvoll wie erfreulich wie überraschend und erregend ist: Zärtliche gleichgeschlechtliche Liebe in Nahaufnahme. Man kann einem Film immer vorwerfen, dass er keine andere Mittel als die Nahaufnahme für Nähe findet, oder Nacktheit als Ausgesetzheit einsetzt. Um über Liebe nachzudenken braucht es nicht immer so viel Haut. Aber genau dieser Vorwurf ist in «La Vie d’Adèle» dünn gerüstet: Man müsste dann dem Film auch vorwerfen, dass er zuviel über Gewalt nachdenkt. Dass Emma Adèle verprügelt, ist ebenso ein Mittel, um die Wege der Liebe zu zeigen. Dass die beiden Frauen wohl länger streiten oder lachen als küssen und knutschen fällt bei einer derartigen Fixierung rasch unter den Teppich. Wir erfahren in «La Vie d’Adèle» in der Tat nicht viel Neues über Sexualität. Aber wir erfahren sie in einem veränderten Zusammenhang, einem wichtigen sozialen Kontext: Die gleichgeschlechtliche Liebe ist auf halbem Weg zur Normalität. Es haben nämlich viele aufgeklärte Bürger keine Mühe mehr mit ihrem schwulen Bürgermeister, aber damit, dass er als Gatte einen Mann zur Oper mitbringt. Und ihn wohl auch wieder mit nach Hause nimmt. Dass ein Film in Frankreich, wo die Rechte gerade einen Sommer lang gegen die gleichgeschlechtliche Partnerschaftsregelung Sturm lief, zu krassen Mitteln greift, zeigt, wie wichtig dieser Film ist. Ausserdem kann über die restlichen 178 Minuten des Films auch gesagt werden: Die klassische dramatische Literatur Frankreichs nimmt darin einen wesentlich breiteren Raum ein, als die Knutschszenen. Die Hauptfigur entscheidet sich nicht zuletzt wegen des passionierten Philosophie-Diskurses zum Lehrerinnenberuf. "Adèle" schafft facettenreich Raum für lustvoll intensiv geführte philosophische Fragestellungen der Liebe. Wer bei den Knutschszenen wegschauen will, sollte das tun. Bei den Philosophieszenen wegzuhören wird vielen leichter fallen. Der Lehrkörper sollte sich immerhin wappnen: am besten mit den erwähnten klassischen, französischen Liebesdialogen. Lernende werden vielleicht eher Fragen haben zum gehörten Marivaux als zum gesehenen Cunnilingus, über den tatsächlich nicht viel zu erfahren ist. Wir brauchen uns aber durchaus nicht erst eine Filmemacherin für das Thema Liebe zu wünschen: Als Einstieg dient vielleicht Charlotte Brandstroms "Sweet Revenge" oder "Eine flexible Frau" von Tatjana Turanskyj. Und natürlich darf sich "Adèle" eine lebendige Diskussion wünschen. Auch über Marivaux, Philosophie im Schulunterricht etc... Darauf Sind sie hoffentlich auch gespannt Hansjörg Betschart

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  • Ein erotisches Sittenbild der französischen Gegenwart

    Danke. Ich hatte nur die Autorin Julie Maroh erwähnt. Die Übersetzung des Comic-Titels "Blau ist eine warme Farbe" ist übrigens auch der Titel für die deutsche Fassung des Films.

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  • Der Teufelsgeiger – Rock it with «Paganini»

    Liebe Franca Hänzi: Ich habe mich über den Schauspieler Garret in der Kritik nicht so recht äussern wollen, weil er - als Musiker - beweist, dass man als Starmusiker einen Starmusiker nicht unbedingt hinreissend spielen muss ... Was Garret musikalisch bietet könnte immerhin kein Schauspieler: Wenn Sie aber einen grossen Schauspieler bei der Arbeit sehen wollen, dann ist das nicht Ihr Film: Eher vielleicht Forest Whitaker in 'Bird'? Aber das ist schon lange her ..

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  • «Goltzius and the Pelican Company» – Greenaway unterwegs nach Basel

    In der Tat - im Blog geht ein Text gerne auch mal ohne unsere wunderbaren Korrektorate auf Reisen ... Trotzdem: Danke. S'ist halt mit der Lechzschreibung wie es Jandl vermutet: manche meinen, lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein illtum ... H.B.

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  • «Bling Ring» – der falsche Glamour

    Stimmt, leider. Der Artikel ist allerdings in der Tageswoche schon länger zu lesen gewesen, hat sich aber - frech - noch einmal in die Aktualität zu schleichen versucht - vergeblich. Der Film läuft in der Tat in Basel nicht mehr. "Worlds End" hingegen ist ein ganz anderes Kaliber, als die kühle Amerikanerin: Schrille Komik, Tolle SchauspielerInnen, Schräge Geschichte. Britisch eben. Aber Danke für den Hinweis, und auch den kleinen Seitenhieb gegen die zunehmende Verstümmelung von Filmen durch Synchronisation ... H.Betschart

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  • Das Gässli macht Sieger

    Danke für den Hinweis. Die Jungs nämlich tragen da auch sehr viel bei! Nicht zuletzt mit ihrem Text! Und wer mehr hören will, der höre! http://sheilashelovesyou.bandcamp.com/track/dolphin-champion I wouldn't mind if you changed I wouldn't mind if you were here with me I would like you and me to be the start of a family tree so we'll do what we all do with ourselves into what we fear into what we will be dreaming tonight and I couldn't help you with it no I couldn't help you with it but I'm gonna ask you to try and you gonna say somehow you'll be fine so we'll do what we all do with ourselves I am lifted high above you 'cause you don't know what to do come and look into my eyes I will poison you with lies I hope I'm not immortal 'cause I was born in the sign of boredom I need a problem everyday I make 'em up and make 'em stay I wouldn't mind if you changed but I cannot help you with it so we'll do what we all do with ourselves H.B.

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  • «Only God forgives» – hoffentlich auch diesem Film!

    Hallo Toni, Sich auf den Geschmack anderer zu verlassen, bildet nicht den eigenen. Immerhin lege ich zu unserer Geschmacksbildung noch ein paar andere Geschmäcker bei, die da wären: http://www.capturemag.net/etat-critique/je-regle-mon-pas-sur-le-pas-de-ma-mere/ und http://www.spiegel.de/kultur/kino/kino-only-god-forgives-von-nicolas-winding-refn-mit-ryan-gosling-a-910776.html und http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/was-macht-ryan-gosling-zum-superstar-mit-dem-nimbus-des-einzelgaengers-12285452.html und http://www.technikart.com/6495-let-s-agree-to-disagree und http://www.welt.de/kultur/kino/article118143724/Maenner-Immer-auf-dem-Weg-zum-naechsten-Blutbad.html Di haben andere Meinungen hierzu. Herzlich H.Betschart

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  • Vier Unfassbare in «Now You See Me»

    Nun interessiert mich an Ihrem Filmgenuss natürlich sehr: Ob er nach oder vor Ihrer Lektüre stattgefunden hat? Neugierige Grüsse: H.Betschart

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  • Bildrausch: Shirley – Visions of Reality

    Weil die Vorstellung am Mittwoch ausverkauft war, wird am Sonntag 21h15 eine zweite angesetzt. Eigentlich würden wir die Klangbilder des Trio Edi auch dann gerne noch mal geniessen ...!

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  • Eurovision im Kontext für Kontest

    Ein Land schickt seine Heilsarmee in einen TV-Wettbewerb für Schlagersternchen! Einer derartigen Posse kann nur eine Glosse gerecht werden. Vielleicht war es voreilig, lieber Herr Hollmann, die Niederlage von Takasa ( so nennt sich die Heilsarmee-Combo) in Malmö sieben Stunden vor deren Eintreffen zu vermelden. Immerhin wollte der Vorschlag für die nächste Kandidatur die verzweifelt Gutgelaunten dafür trösten, was sie zu sehen kriegen würden. Glücklich jene, die sich bei Takasa fragen: Was ist das?! Ihnen ist vieles erspart geblieben. Herzlich H.Betschart

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