Bezeichnend für die Voreingenommenheit und Phantasielosigkeit der meisten westeuropäischen, vielleicht eingeschränkt: der meisten deutschsprachigen Politjournalisten ist die gestern und heute vorherrschende Nachrichtensalve, wonach "die Börsen" weltweit mit Umsatzrückgängen auf den Ausgang der italienischen Parlamentswahlen "reagiert" hätten. Bei der ARD wurde dazu in allen "Tagesschau"-Beiträgen zum Wahlausgang ein Filmchen über das Gebäude der japanischen Börse in Tokyo mit Schwenk auf eine Zahl in grün, nämlich -600 vorgeführt. Information ! Nur: Worüber eigentlich ?
Das politische Leben in Europa, in den USA, in China, in Japan, in der Weltwirtschaft wie in der Weltmachtpolitik überall selbstredend ist weiutaus komplexer als "die Börse". Das weiss man auch als TV-oder als Printmedien respektive Internetjournalist. Aber "man" operiert nicht mit diesem Wissen, sondern mit billigen Bildchenabfolgen, welche mit der Alltagsrealität von Milliarden Menschen rein gar nichts zu tun haben. Ausser dass an Börsen allein nach Rednitemuster "gehandelt" wird. Pardon: Ausser dass vorprogrammierte Börsensoftware nach Renditeversprechens-Hardware "handeln".
Ob mit Müller-Meinigers Artikel "Avanti Dilettanti" einigermassen fundierte Hintergrundinformation geliefert wird ? ich weiss es nicht. Immerhin kommt in diesem Artikel der Begriff Börse endlich einmal nicht vor. Immerhin werden Grilli-Protagonisten erstmals im deutschen Sprachgebiet, soviel ich das übersehen kann, beim Namen genannt. Und siehe da: So furchtbar "unregierbar" scheint Italien nun doch nicht zu werden, wie uns der weitherum einstimmig ertönende Journalisten-Mainstream weismachen will.
Denn: Man kann auch anders "zählen", als "die Börse" und die ihr angegliederte politische "Sorge in der EU" es sich ausrechnet: Die PD, 29,5 % Wähleranteil, und die Grilli's, 25 % Wähleranteil, haben zusammen die Mehrheit der Wählenden gewonnen. Nimmt man die 10 % von Monti's Bürgerliste dazu, dann kommt man auf immerhin eine Zweidrittelmehrheit, genügend Stimmen also, um Verfassungsänderungen durchzuführen.
(Ich nehme mich diesbezüglich bei der eigenen Nase, weil ich bemerkt habe, wie geradezu naiv ich auf die gestrigen Nachrichtenbegriffe hereingefallen bin, was die Grilli's betrifft).
"Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber in gewisser Weise entstand in den Lagern der Nazis zum ersten Mal so etwas wie ein europäischer Geist." Jorge Semprun
Vielleicht haben sie sich nicht alle untereinander gekannt, aber sie waren als KZ-Häftlinge in Buchenwald, eingesperrt und von den Nazis zur Vernichtung vorgesehen - gefangengenommen nicht nur durch Gestapo, SS und Wehrmachtkreise, sondern auch durch "einheimische" Helfer und Helfershelfer in Ungarn, in Frankreich und anderswo in besetzten Ländern in Europa:
Stéphane Hessel, Jorge Semprun, Imre Kertész, Léon Blum, Jean Améry, Elie Wiesel, Eugen Kogon, um einige zu nennen, welche einen erzwungenen Teil ihres Lebens im KZ Buchenwald eingesperrt verharren mussten, ihren von den Nazis vorgesehenen Tod ständig vor Augen.
Dass Stéphane Hessel im hohen Alter den Essay "Empört Euch!" geschrieben hat, ist auch deshalb von grosser Bedeutung, weil er damit auf jene unveräusserlichen Grundlagen hinweisen wollte, denen er und viele Mithäftlinge in Buchenwald und in anderen Nazi.KZ's ihr Überleben gewidmet haben:
Den Menschenrechten.
Dass Hessel diese Rechte durch den Finanzkapitalismus nicht nur gefährdet, sondern von diesem "Phänomen" umgangen, ja geplant aktiv vernichtet sah, hat ihn zum Verfassen und der Veröffentlichung seiner Schrift bewogen.
Sein Tod berührt mich. Auch, weil er mit seinen Leidensgenossen zusammen jenen Aufbruch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitgeschaffen hat, den es heute zu verteidigen gilt, und zwar im und mit dem Begriff der Menschenrechte:
Überwindung des Rassismus, des Nationalismus, des menschenverachtenden Ressourcendiebstahls und der Macht der Finanzkapitalisten, welche die Verarmung ganzer Völker in Kauf nehmen, um ihre 25%-Rendite auf angebliche "Investitionen", die allerdings meistens nichts anderes als Spekulationen auf Kosten von Milliarden Menschen sind, einfahren zu können.
O ja, Stéphan Hessel war ein Moralist. Keiner, der es sich bequem gemacht hat. Einer, der sagte, was er zu sagen hatte, koste es ihn, was es wolle.
Nein, der erste Kommentar in diesem Stream drückt meine Ansichten über "Italien" nicht aus. Da habe ich mich wohl sehr undeutlich ausgedrückt.
Über "Italien" kann ich keine definierte "Meinung" haben, so wenig wie über "Deutschland", "die" USA oder meinetwegen "die" Schweiz. Über Berlusconi hingegen habe ich eine Meinung. Warum so viele Wählerinnen und Wähler der PL von Berlusconi ihre Stimme gegeben haben ? Natürlich weiss ich nicht, warum, deshalb frage ich ja: Warum ?
Ich frage mich auch, weshalb bei den letzten Nationalratswahlen in der Schweiz immer noch mehr als ein Viertel der Wählenden der SVP ihre Stimme gegeben haben - wobei ich durchaus annehme wissend, dass Blocher, Mörgeli, Somm und noch ein paar andere Lautsprecher natürlich nicht "die" SVP sind. So wird es auch bei der PL sein.
Aber beide Parteien betreiben - wohl nicht zuletzt mit Geld der beiden Milliardäre namens B. - einen Personenkult um eben diese B's, welcher alles andere verstrahlt oder auch vernebelt, je nachdem, wie man diese Phänomene betrachtet.
Berlinguer schaute immer so traurig und augenscheinlich ernüchtert in seine sinestraitalienische Welt hinein, kein Anführer, kein Polterer, kein Hetzbruder, dem ebenfalls immer traurig auf seine democratiacristianische Welt schauenden Moro, auch kein Anführer, kein Hetzer, kein Polterer, nahe verwandt. Und der Clown jener Tage hiess Dario Fo, die grossen Regisseure des aufwühlenden Welttheaters trugen Namen wie Rosselini, Bertolucchi, natürlich Fellini, natürlich Pasolini. Zum Beispiel. Der Tingeltangel spielte sich in römischen Kinos als Pausenfüllung ab, nach Feierband, oder auf der Piazza Republica mitten in Rom, wenn Tenorschmelze O solo mio schmetterte und die falschen Töne zu den Autohupereien und den quietschenden Reifensaltos und den Polizeialfa-Sirenenheulereien passten. Heute passen sie wohl zu gar nichts mehr richtig, vor allem aber nicht zur Repräsentanz einer Staatsregierung, denke ich.
Tempi passati?
Das eine, der "Cavaliere" (Ritter) schliesst das andere, "Clown" nicht aus.
Berlusconi wird "Cavaliere" genannten, weil er irgendwann einmal einen staatlichen Orden erhielt, der ihn berechtigt, den Titel "Cavaliere" mit seinem Namen, "Berlusconi" zu verbinden. Was nicht verhindert hat, dass er sich in vielerlei Hinsicht als der Clown von eigenen Gnaden aufführt.
Blocher ein "Cavaliere" ? Gar Mörgeli ein solcher ? Und Somm ihr Oberpriester und Weihrauchfassschwinger ? Mir kommt diese Personengruppe eher vor wie die Groteske jener Vergangenheitsbeschwörung, welche Blocher, Mörgeli und Co. entgegen jeder erkannten und gut erforschten historischen Faktizität als "eidgenössisch" oder eben "allein schweizerisch" darzustellen belieben: Unwirklich, realitätsleugnend, clownesk. Dass dazu einer wie Herr Pfister aus Oberägeri - nahe bei Morgarten, jaja - gehört: Geschenkt!
Die Frage, weshalb so viele Italienerinnen und Italiener derart populistischen Anführern wie Berlusconi und Grillo folgen - über 50 %, das heisst über die Hälfte jener rund 75 % der Wahlberechtigten, die gewählt haben, kann man sich schon stellen, ohne gleich als mit "Vorurteilen" behaftet oder als "primitiv" bezeichnet dazustehen.
Das Wahlergebis weist mindestens ebensosehr, wie es eine "Stimmung" wiedergibt, auf strukturelle Zusammenhänge innerhalb der italienischen Gesellschaft hin, welche weit über das gerade Aktuelle hinausgehen dürften. Ob Italiens Nachbarn einen Berlusconi (und dessen verheerende Politik, die vor allem einerseits aus Darstellung bestand und besteht und anderseits aus Korruption, Untergrabung des Rechtsstaates und so weiter) einfach stillschweigend tolerieren sollen? Auch diese Frage kann man stellen, ohne gleich als intoleranter Nachbar gelten zu müssen.
Berlusconi ist ein Produkt der italienischen Nachkriegsgesellschaft, sein Reichtum ist entstanden, weil Korruption, Mafiaverbindungen, billigster Antikommunismus und andere Grössenordnungen seiner seichten Unterhaltungs- und seiner korrupten Wirtschaftstätigkeit ein weites leeres Feld zur Verfügung gestellt haben. Die Leere ist auch heute immer noch vorhanden. In sie springt nun ein Clown. Und der wird gleich von einem Viertel der Wählenden gewählt. Was, von aussen betrachtet, kein Wunder ist: Berlusconi hat viele Wählerinnen und Wähler längst daran gewöhnt, von einem Clown regiert zu werden. Sie lassen sich weiterhin "unterhalten". Aber:
Insofern, da stimme ich Ihnen zu, sollte man aus der Schweiz heraus diesbezüglich keine allzu grossen "Steine" werfen, wenn man an schweizerische Clowns namens Blocher oder Mörgeli denkt, welche bei den letzten Nationalratswahlen auch einen Viertel der Wahlstimmen "eingeholt" hatten.
Ein Unterschied zu Italien besteht allerdings: Dort sind es an diesem Wochenende mehr als die Hälfte der Wählenden gewesen!
Erst einmal der von Ihnen sehr ungenau interpretierte Artikel 80 der UN-Charta:
"Article 80
Except as may be agreed upon in individual trusteeship agreements, made under Articles 77, 79, and 81, placing each territory under the trusteeship system, and until such agreements have been concluded, nothing in this Chapter shall be construed in or of itself to alter in any manner the rights whatsoever of any states or any peoples or the terms of existing international instruments to which Members of the United Nations may respectively be parties.
Paragraph 1 of this Article shall not be interpreted as giving grounds for delay or postponement of the negotiation and conclusion of agreements for placing mandated and other territories under the trusteeship system as provided for in Article 77."
Dann der Wortlaut der UN-Sicherheitsrats-Resolution 242 vom 22.November 1967:
"„Der Sicherheitsrat, mit dem Ausdruck seiner anhaltenden Besorgnis über die ernste Situation im Nahen Osten, unter Betonung der Unzulässigkeit des Gebietserwerbs durch Krieg und der Notwendigkeit, auf einen gerechten und dauerhaften Frieden hinzuarbeiten, in dem jeder Staat der Region in Sicherheit leben kann, ferner unter Betonung dessen, dass alle Mitgliedstaaten mit der Annahme der Charta der Vereinten Nationen die Verpflichtung eingegangen sind, in Übereinstimmung mit Artikel 2 der Charta zu handeln, 1. erklärt, dass die Verwirklichung der Grundsätze der Charta die Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens im Nahen Osten verlangt, der die Anwendung der beiden folgenden Grundsätze einschließen sollte:
i) Rückzug der israelischen Streitkräfte aus (den)[2] Gebieten, die während des jüngsten Konflikts besetzt wurden;
ii) Beendigung jeder Geltendmachung des Kriegszustands beziehungsweise jedes Kriegszustands sowie Achtung und Anerkennung der Souveränität, territorialen Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit eines jeden Staates in der Region und seines Rechts, innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen frei von Androhungen oder Akten der Gewalt in Frieden zu leben;
2. erklärt ferner, dass es notwendig ist,
a) die Freiheit der Schifffahrt auf den internationalen Wasserwegen in der Region zu garantieren;
b) eine gerechte Regelung des Flüchtlingsproblems herbeizuführen;
c) die territoriale Unverletzlichkeit und politische Unabhängigkeit eines jeden Staates der Region durch Maßnahmen zu garantieren, die auch die Schaffung entmilitarisierter Zonen einschließen;
3. ersucht den Generalsekretär, einen Sonderbeauftragten zu ernennen, der sich in den Nahen Osten begeben soll, um mit den beteiligten Staaten Verbindung aufzunehmen und zu unterhalten, mit dem Ziel, eine Einigung zu fördern und die Bemühungen zur Herbeiführung einer friedlichen und akzeptierten Regelung im Einklang mit den Bestimmungen und Grundsätzen dieser Resolution zu unterstützen; 4. ersucht den Generalsekretär, dem Sicherheitsrat baldmöglichst über den Stand der Bemühungen des Sonderbeauftragten Bericht zu erstatten. Auf der 1382. Sitzung des Sicherheitsrats einstimmig verabschiedet. “
Bemerkung 1:
Un-Sicherheitsrats-Resolutionen gelten als völkerrechtliche Akte.
Bemerkung 2:
Mit der UN-Sicherheitsresolution 478 wurde im August eine Nichtigkeitserklärung (völkerrechtlich bindend) der Annexion Ost-Jerusalems durch Israel festgehalten.
Bemerkung 3:
Die UN-Sicherheitsrats-Resolution 605 verurteilt Israel expressis verbis wegen "ständiger Verletzung der Menschenrechte für Zivilpersonen in Kriegsgebieten" sowie eine Verurteilung Israels wegen "wiederholter Mißachtung der Menschenrechte in den besetzten Gebieten".
Bemerkung 4:
UN-Sicherheitsrats-Resolutionen müssen von den 5 ständigen Ratsmitgliedsländern USA, Russland (früher UdSSR), China (vor 1972 "Nationalchina", also Taiwan), Großbritannien und Frankreich angenommen werden, sonst können sie nicht verabschiedet werden.
Die Zitierung zahlreicher weiterer UN-Sicherheitsrats-Resoutionen, welche Israels Militärpolitik (z.B. gegenüber dem Libanon, gegenüber Syrien auf dem Golan usw.)verurteilt haben, schenke ich mir.
Fazit:
Ihre Äusserungen haben nichts mit den völkerrechtlichen Grundlagen zu tun, welche im Artikel 80 vor allem im Hinblick auf damals, 1945/46 noch herrschende Kolonialherrschaften Eingang in die Charta der UNO gefunden haben. Sie sind im übrigen durchaus so verfasst, dass ihr vorübergehender Rechtscharakter deutlich erkennbar ist.
Mit anderen Worten: Ihre "Antisemitismuserklärung" an meine Adresse können Sie nicht mit dem Hinweis auf Artikel 80 "begründen", sondern allenfalls mit Ihrer Einstellung gegenüber Menschen, welche der israelischen Machtpolitik gegenüber den Palästinensern mit kritische Fragen begegnen.
Ein Stück Vaticanum II, quasi eine Rückkehr des Theologen Ratzinger zu menschlichen Grössenordnungen seiner frühen Berufsjahre. Im Grunde genommen ist ein Rücktritt vom Papstamt schlicht revolutionär. "Bis dass der Tod Dich scheidet", den Papst vom Papstamt nämlich, hat Ratzinger erstaunlicherweise völlig unspektakulär beendet. Er wird nicht mehr, wie einige seiner Vorgänger, zuletzt der polnische Papst, öffentlich hinsiechen, mit dem Tod "ringen" und schliesslich "den Erdkreis" in bildgerechte Trauerszenen vor dem Petersdom stürzen lassen. Nein, er geht einfach, tritt zurück.
Eine Spur Amtsverständnis, welches mich, was die Person Ratzinger betrifft, erstaunt. Und doch nicht so ganz. In letzter Zeit konnte man hie und da Äusserungen des jungen Konzilstheologen Ratzinger lesen, die u.a. etwa das zölibatäre Leben betrafen, die Kirchenleitung, die Bedeutung der "Laien" usw., welche in den vatikanischen Couloirs längst wieder ad acta gelegt worden sind.
Und nun macht dieser Mann etwas, was Begriffe wie "Stellvertreter Gottes" oder "Heiliger Vater" obsolet erscheinen lässt, weil er dieses Amt zu einer Einrichtung macht, aus der heraus man sich auch in Rente begeben kann. Wenn das kein Anfang ist!
Bezeichnenderweise geht Gasche in seiner Geschichte von einer Aktivität des DEUTSCHEN Bundeskartellamtes aus. Damit ist bereits einiges, durchaus wesentliches, über wettbewerbsverzerrende Preispolitik von zahlreichen Unternehmen in der Schweiz gesagt:
Die schweizerische Wettbewerbskommission hat oft zu wenig Durchschlagskraft - und dies, trotzdem es bezüglich der Preisgestaltung ja auch noch den Preisüberwacher gibt.
Mit anderen Worten: Wer von "Wettbewerb" spricht und der "Deregulierung des Marktes" das Wort redet, müsste mindestens die Überwachung des Wettbewerbs auch personell so ausrüsten, dass wirklich kontrolliert werden kann. Das ist durchaus eine wichtige Staatsaufgabe.
Genau dies aber verhindern ständige "Personalstopp-Reklamationen" von "bürgerlicher" Seite in der Schweiz am laufenden Band. In Deutschland hat das Bundeskartellamt auch deswegen eine hohe Akzeptanz (auch in "der" Wirtschaft), weil es wirklich durchgreifen kann - und personell in der Lage ist, Durchsuchungen an Firmensitzen in grösserem Stil durchzuführen. Ich kann mir - auch auf Grund auch der darüber bestehenden "Nichtöffentlichkeit" schweizerischer Verfahrensabläufe - nicht vorstellen, dass schweizerische Wettbewerbshüter eines Tages einfach bei Nestlé in Vevey einmarschieren würden! Genau dies aber geschieht in Deutschland durch das Bundeskartellamt regelmässig und öffentlich - und die Ergebnisse sehen dann eben dementsprechend konkret aus!
Jedesmal, wenn ich in der Schweiz bin, wundern mich die für einen in Deutschland, namentlich in Berlin lebenden Zeitgenossen geradezu aberwitzig hohen Alltagspreise dort. In Berlin bezahle ich für einen Café-Crème durchschnittlich etwa 2 Euro. Weshalb dieses Getränk in der Schweiz etwa zweieinhalb mal soviel kosten soll, ist mir nicht einsichtig (und ist weder durch Lohnunterschiede noch durch sonst irgend etwas wirklich "ökonomisch Begründbares"zu rechtfertigen).
Kurz:
Schweizer Alltagspreise sind nicht einfach "natur- oder gottgegeben", sondern weisen auf mangelnden realen, das heisst wirklichen freien Markt hin.
10 % von 5 Milliarden Dollar sind immerhin 500 Millionen Dollar. Soviel braucht nach eignen Angaben (laut dem Artikel von Niklaus Ramseyer) das IOK für sich selber, im Zeitraum von vier Jahren, was einen durchschnittlichen Jahresaufwand von 125 Millionen Dollar ergibt.
Allein schon die Angabe aus dem IOK, man brauche "weniger als 10 %" der "Einnahmen" für sich selber, müsste eigentlich jeden Politiker, der Zuwendungen staatlicher Gelder an das IOK absegnen muss, aufhorchen lassen. Weit und breit keine öffentliche Haushaltführung.
Und was geschieht mit den restlichen 90 % der rund 5 Milliarden Dollar, das heisst mit den 1,25 Milliarden Dollar jährlich ? Was wird "gefördert" ?
Nichts Genaues weiss man.
In der interessanten Reportage über Nord-Neukölln erkenne ich eine Art Führung durch all jene Stereotypen, welche "man" über "Neukölln" ausserhalb von Neukölln, nun, meist auch ausserhalb von Berlin in etwa dieser Art vorgeführt erhält:
Migrationsanteil, Schulprobleme, Rütli-Schule, Karl-Marx-Strasse, Gentrifizierung, Islam samt Moscheen und Gebetshäuser - wobei die zahlreichen neuköllner christlichen Kirchen, die zahlreichen ausgedehnten Friedhofsanlagen mit ihren wunderbaren alten Baumbeständen mitten in dichtest überbauten und bewohnten Kiezen (etwa zwischen Karl-Marx-Strasse und Hermannstrasse), die Gebets- und Kultusräume von Buddhisten, Hindus, zahlreichen christlichen Sekten übersehen worden sind. Dazu, auch wie immer, wenn von Neukölln die Rede ist, "erschreckende" Statistiken und Bürgermeister Buschkowsky, dauerarbeitslose Hartz IV-Empfänger und Döner-Restaurants und so weiter.
Es ist eine Reportage über Stereotypen, welche allerdings durch kleine Hinweise auf menschliche Verhaltensweisen aufgelockert wird.
Alltäglich ist das nördliche Neukölln allerdings viel farbiger, das Leben viel differenzierter, das Neben- und Miteinander sowohl komplexer als auch erträglicher, wenn man es etwas alltäglicher lebt als in drei Tagen.
Ich will hier einige Beispiele nennen:
-Stadtbad Neukölln, Ganghofersterasse 3-5, dritte Querstrasse zur Karl-Marxstrasse vom Rathaus Neukölln in südlicher Richtung, etwa 5 Gehminuten vom Rathaus entfernt. Hier gibt es unter anderem: FKK-Schwimmen mehrmals die Woche, eine ausserordentlich grosszügig gestaltete Saunalandschaft, Besucher aus allen "Ethnien" Neuköllns, Begegnungsort einer "schwieirig zusammengesetzten" Stadtbevölkerung, deren Körperlichkeit einen immer wieder überrascht. Ich habe über dieses auch architektonisch interessante Bad, ein vielbesuchtes, noch nie auch nur eine Zeile gelesen, wenn von "Neukölln" die Rede ist, obwohl dieses Stadtbad für Tausende Anwohner eine wichtige Kiezfunktion, auch und gerade als Begegnungsstätte von sehr unterschiedlichen Menschen wahrnimmt.
-Karstadt am Hermannplatz. Einst von Goebbels eingeweiht, im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört, vor etwa 15 Jahren renoviert, zum Teil in die protzige Archtektur der Nach-Artdeco-Zeit zurückgebaut und heute eines der Vorzeigewarenhäuser des Konzerns. Im Untergeschoss befindet sich eine Lebensmittelabteilung, deren Grösse und deren Qualitätsangebot vom Brot über das Gemüse und den Wein bis hin zum Fisch jede entsprechende Vornehmabteilung in irgendwelchen grosstädtischen schweizerischen Gourmetzentren weit übertrifft. Das Kundenpublikum dort? Eben "Neuköllner", Muslima mit Kopftuch genau so wie Rentner aus der Umgebung oder zugewanderte Kreative aus der halben Welt, welche im Kiez zwischen Karl-Marx-Strasse und dem S-Bahnhof Hermannstrasse leben und arbeiten.
-Neuköllner Oper. Sie befindet sich in einem Hinterhof an der Karl-Marx-Strasse 13, nahe beim Rathaus, in dem Bürgermeister Buschowsky amtet. Hier ein Zitat:
„Die Neuköllner Oper in der Karl-Marx-Straße ist Berlins kreativstes Musiktheater. Sie strahlt weit über den Bezirk hinaus mit Volksopern, Opern-Ausgrabungen, satirischen Adaptionen, musikdramatischen Experimenten und lebensnahen aktuellen Musicals. Humorvoll, kreativ, und immer auf den Menschen bezogen, setzt sie neue musikalische und inhaltliche Maßstäbe... Die Neuköllner Oper (NKO) ist als vierte Opernbühne der Stadt für diese wahrscheinlich unverzichtbarer als die eine oder andere der drei großen Opernbühnen.“
(Aus den Evaluierungs-Gutachten über die Berliner Privattheater des Berliner Senats).
Oder ein Blick in das gegenwärtige Wochen-Programm dieser Bühne:
Sa 02.
17.30 Uhr die Cantadoras (Konzert und Feijoada )
Sa 02.
20.00 Uhr Ópera do Malandro
So 03.
20.00 Uhr Ópera do Malandro
Di 05.
20.00 Uhr The Opera Aliens Lab III (Uraufführung)
Do 07.
20.00 Uhr Ópera do Malandro
Do 07.
22.30 Uhr The Opera Aliens Lab III
Fr 08.
20.00 Uhr Ópera do Malandro
Fr 08.
22.30 Uhr The Opera Aliens Lab III
Sa 09.
15.00 Uhr Europäische Depeschen III (Sonderveranstaltung)
Sa 09.
20.00 Uhr Ópera do Malandro
Und so weiter.
Abgesehen davon, dass es einen Kiez namens Alt-Rixdorf gibt, gleich um die Eckedes oben genannten Stadtbades Neukölln. Dass das freibegehbare ehemalige Tempelhofer Flughafenfeld für Zehntausende Neuköllner Erholungsraum bietet, der in einer Vielfältigkeit wahrgenommen wird, die man ansonsten allenfalls dem Central-Park in New York oder dem Londoner Hyde-Park nachsagt.
Mit anderen Worten: Neukölln ist eine Großstadt in der Metropole. Ein Schmelztigel. Eine ziemlich komplette "Welt". Natürlich mit Problemen behaftet. Alltäglich aber sind diese Probleme nicht auffallender als jene, die man sehen und erleben muss, wenn man in Pratteln oder in Reinach, im Kleinbasel oder im Basler Gundeli wohnt und lebt (Mitdamt den auch dort hie und da vorkommenden Mordfällen). Sie sind zu benennen, sie sind vorläufigen Lösungen zuzuführen, sie sind immer da, mal so, mal in anderer Erscheinungsform. Stereotypen allerdings sind eben Stereotypen, nicht "Leben".
Alois-Karl Hürlimann, Berlin